Hallenberg. Der Priester Wolfgang F. Rothe ist selbst zum Opfer von Machtmissbrauch durch seinen Bischof geworden. Das macht er in einem Buch öffentlich.

Dr. Dr. Wolfgang F. ­Rothe hat als erster Priester öffentlich gemacht, dass er zum Opfer von Machtmissbrauch durch Vorgesetzte wurde. Jetzt meldet sich der gebürtige Hallenberger mit seinem Buch „Missbrauchte Kirche“ zu Wort. Darin beschreibt der promovierte Kirchenrechtler und Theologe die rigide Sexualmoral der katholischen Kirche als einen entscheidenden Treiber für ein Klima, das sexuelle Gewalt möglich macht und die Aufarbeitung erschwert. Rothes Buch ist bereits in zweiter Auflage gedruckt worden. Denn es ist der erste Insider-Bericht darüber, wie ein junger Priester zwischen die Fronten verschiedener Machtinteressen gerät, manipuliert und instrumentalisiert wird.

„Kirche war für mich alles; Lebensinhalt und Daseinszweck, Zufluchtsort, Sehnsuchtsziel, Seelenheimat“, schreibt Rothe. In Hallenberg bei einem verehrten Pfarrer in einer heilen katholischen Welt aufgewachsen, passt der junge Sauerländer als Theologiestudent perfekt in das Beuteschema von ultrakonservativen Bewegungen und Gemeinschaften, die durch ihre Sittenstrenge und ihre Fixierung auf die Sexualität auffallen, die aber nicht Sexualität genannt wird, sondern Keuschheit. „Erst sehr viel später erkannte ich, dass sich hinter diesem Wort eine ganz eigene Gedanken- und Glaubenswelt, eine Ideologie, ein komplettes religiös verbrämtes Manipulations-, Unterdrückungs- und Kontrollsystem verbirgt.“

Im Fadenkreuz von Intrigen

Der hochintelligente Student fällt schnell auf, wird vom St. Pöltener Bischof Kurt Krenn gefördert, zur Promotion an die Opus-Dei-Universität Vom Heiligen Kreuz nach Rom geschickt und gerät später als Krenns Sekretär ins Fadenkreuz von Intrigen und Machtkämpfen, die sich im Skandal um das Priesterseminar in St. Pölten entladen. ­Rothe, der dort als Subregens wirkt, soll zum Sündenbock gemacht werden. Als er sich dagegen wehrt, geraten die Dinge außer Kontrolle.

Wolfgang F. Rothe verbindet in seinem Buch Einblicke in die Laufbahn eines Priesters mit theologischen und kirchenrechtlichen Exkursen zur Sexualmoral, zur Stellung der Frau, Zölibat, Homosexualität und zum Missbrauchsskandal. Diese Ausführungen sind überraschend und informativ zugleich. So dürften selbst Katholiken der Auffassung sein, dass die kirchliche Sexualmoral seit Olims Zeiten in Stein gemeißelt steht. Tatsächlich hingegen handelt es sich um relativ junge Vorschriften: „Die ältesten Dokumente dieser Art stammen aus dem 19. Jahrhundert“ schreibt Rothe und: „Zu einer regelrechten Sexualisierung der lehramtlichen Verkündigung kam es im 20. Jahrhundert.“ 1968 veröffentlicht Papst Paul VI. die sogenannte Pillenenzyklika. Rothe: „Das kirchliche Lehramt war im katholischen Schlafzimmer angekommen.“

Angst und Denunziantentum

Sexualität wird zum Instrument, mit dem die Kirche ihre Priester und Gemeinschaften wie Opus Dei oder „Das Werk“ ihre Mitglieder gehorsam und gefügig halten. Rothe schildert, wie Angst und Denunziantentum das Leben auch von Priestern vergiften. „Diese sexualfixierte und zugleich sexualfeindliche Haltung könnte unheiliger, unmoralischer und unheilvoller kaum sein (…) und stellt damit einen erheblichen Risikofaktor für Machtmissbrauch dar. Die lehramtliche Sexualmoral der katholischen Kirche ist nicht die Lösung, sie ist ein wesentlicher Teil des Problems.“

Im Fall des Priesterseminares von St. Pölten, wo auf dem Computer eines Seminaristen kinderpornografisches Material gefunden wurde, steht ­Rothe als Mitarbeiter des kranken Bischofs Krenn auf der falschen Seite der Macht. Zum Subregens wurde er ernannt, damit er Zeit hätte, an seiner Habilitationsschrift zu arbeiten. Es beginnen Jahre der Schikane und Demütigung durch Krenns Nachfolger Bischof Klaus Küng. Rothe muss zum Schwulentest, er soll in eine Therapieeinrichtung für Priester, die nicht mehr funktionieren, der Bischof will ihn aus dem Klerikerstand entfernen, er soll nach Rumänien abgeschoben werden. „Unter Halleluja-Klängen kämpfte ich um meine Würde, meine Existenz, meine Zukunft“, schreibt Rothe.

Manipulation und Missbrauch

Erst nach Jahren, als der Missbrauchsskandal die Kirche erschüttert und auch Erwachsene wie die frühere Ordensfrau Doris Reisinger öffentlich von Missbrauchserfahrungen berichten, wird Rothe klar, was ihm da eigentlich widerfahren ist, dass auch er in einen Teufelskreis von Ideologie, Manipulation und Missbrauch geraten ist.

Rothes Buch nennt Personen und Dinge beim Namen, ist jedoch keine Abrechnung. Es handelt sich um einen Report aus dem tiefen Inneren, den Herz- und Dunkelkammern des Systems. Deutlich wird, wie ungeschützt Priester und Angehörige geistlicher Berufe etwaigen Manipulationen ihrer Vorgesetzten ausgeliefert sind. Sie haben keine Arbeitnehmervertretung. Das System ist auf Selbsterhalt bedacht. „Wer sich gegenüber der kirchlichen Hierarchie gefügig zeigt, steigt innerhalb der kirchlichen Hierarchie auf. Wer aufsteigt, hat weniger Obrigkeit über sich und weniger vonseiten dieser Obrigkeit zu befürchten. Und wer weniger zu befürchten hat, kann sich mehr erlauben. Machtstrukturen dieser Art sind schwer zu durchbrechen“, analysiert Rothe. „Missbrauch in all seinen verschiedenen Formen ist aus der Kirche selbst hervorgegangen, aus ihrem Selbstverständnis, ihrer Verfassung, ihren Strukturen.“

Systemischer Ursprung

„Missbrauch ist systemischen Ursprungs“, dieses bittere Fazit zieht Wolfgang F. Rothe. „Mir selbst und anderen gegenüber einzugestehen, dass auch ich von Missbrauch betroffen war (und für immer sein werde) fällt mir nach wie vor schwer. Künftig verhindert werden kann Missbrauch aber nur dann, wenn jede und jeder (nicht nur) in der Kirche erkennt, dass Missbrauch jede und jeden treffen kann und darum jede und jeden betrifft.“

Wolfgang F. Rothe. Missbrauchte Kirche. Eine Abrechnung mit der katholischen Sexualmoral und ihren Verfechtern. Droemer, 20 Euro.