Hagen. Der Fährmann ist eine Metapher für den Übergang vom Leben zum Tod. Wie sich das Ballett Hagen dem Thema nähert.

Wohin führt die letzte Reise? Was passiert nach dem Sterben? Diesen Übergang thematisieren alle Kulturen in ihren Legenden und in ihrer Kunst. So ist weltumspannend die Figur des Fährmanns entstanden, der die Toten über den letzten Fluss geleitet. Diese gegenwärtige und vielschichtige Thematik erarbeitet die Choreographin Gundula Peuthert derzeit mit dem Ballett des Theaters Hagen in starken getanzten Bildern. Der Tanzabend „Fährmann“ feiert am 30. Oktober seine Uraufführung. Wir haben bereits in die Proben gesehen.

Es gibt keine Abgänge und Aufgänge

Es gibt kein Entrinnen. Für niemanden. „Wir wollten unbedingt, dass alle 12 Tänzer die ganze Zeit auf der Bühne sind“, verrät Gundula Peuthert. „Das ist unfassbar schwer. Es gibt keine Abgänge, keine Aufgänge, die müssen sich gegenseitig aushalten, das ist eine tolle Herausforderung.“ So entsteht im Stück Spannung aus Widersprüchen. Das Sterben ist der individuellste denkbare Vorgang, aber von den Toten sprechen wir als Gruppe, als Masse. Der Fährmann hingegen ist eine singuläre Entität, eine Figur ohne Anfang und Ende, der nur weiß, was ihm seine Passagiere auf dem Totenfluss erzählen.

Dario Rigaglia hebt Beatrice Panero zärtlich auf seine Arme. Der rote Pullover der jungen Frau leuchtet wie das pulsierende Leben im unbarmherzigen Arbeitslicht auf der Bühne. Doch Beatrice liegt regungslos in Darios Armen, er prüft vorsichtig mit der Hand, ob sie noch atmet, vergebens.

Die Grundideen zur Choreographie haben Gundula Peuthert und ihre Ausstatterin Heike Mirbach mit den Tänzern gemeinsam entwickelt. Die jungen Künstler, die aus den unterschiedlichsten Ländern ans Theater Hagen gekommen sind, reflektierten improvisierend, welche Riten in ihrer Kultur den Übergang begleiten.

Tanz mit Turnschuhen

Die Compagnie tanzt mit Turnschuhen, das ist ein ungewöhnlicher Anblick für das Ballettpublikum, das entweder Schläppchen oder Spitzenschuhe kennt. Die Sohlen der Sneaker sind speziell mit Velours unterfüttert, damit die Tänzer sich drehen können. Das Schuhwerk hat Arbeitsschutz-Hintergründe. Denn Heike Mirbach gestaltet die Bühne als offenen Raum, der von grauen mobilen Stelen gegliedert wird, Grabsteine, Denkmäler, Särge und kleine Boote zugleich. „Wenn sie mit diesen schweren Hölzern arbeiten, müssen die Schuhe sicher sein“, erläutert Ballettmanagerin Waltraut Körver.

Die Raumarchitektur spiegelt die vertanzte Vieldeutigkeit des Themas: Es geht um Loslassen und Erinnern, es geht aber auch um Bilder für den letzten Weg wie das Totenfloß, auf dem Charon die Verstorbenen ins Reich des Hades bringt. „Man hat so wenig Raum für Trauer in unserer heutigen Gesellschaft“, weiß Heike Mirbach. „Wir haben einen Raum geschaffen für diesen Prozess der Transformation. Wir wissen ja nicht, was wird.“ Beide Künstlerinnen haben Erfahrung mit dem Thema, Gundula Peuthert engagierte sich beispielsweise im Hospiz. Die renommierte Berlinerin kommt aus der freien Szene und gehört zu den drei Kandidaten für die vakante Position der Ballettdirektorin am Theater Hagen.

Diskussion unter Toten

Allerdings ist die Choreographie nicht düster und schwer, wie das Thema vermuten lassen könnte, sondern beschwingt, voller tiefer Poesie und auch Humor. Tänzer Gennaro Chianese beispielsweise bleibt nicht liegen auf seinem kalten Totenbett. Er springt auf und beginnt, mit dem Fährmann zu diskutieren und zu verhandeln und löst damit fast eine kleine Revolution aus. Andrea Schuler tanzt den Fährmann als Inkarnation des Übergangs. „Der Fährmann und die Toten, also das Individuum und die Gruppe, gehen durch einen Prozess, der sich gegenseitig bedingt“, beschreibt Gundula Peuthert. „Der Fährmann hat eine Unbeflecktheit. Das heißt, wenn er Angst erlebt, kann er das mit nichts vergleichen. Wir haben ihm einen Entwicklungsprozess gegeben.“

Wir wissen nicht, was kommt

In Literatur, Malerei und Musik ist jener Übergang vom Leben in das, wovon wir nichts wissen, ein zentrales Motiv. Orpheus will seine Frau zurücksingen von den Toten, was fast sogar gelingt, und begründet damit die Legitimation des Gesangs. Michelangelo inszeniert in seinem „Jüngsten Gericht“ den Fährmann als furchterregenden Dämon. Verdammte und Selige, Himmel und Hölle, Wanderer zwischen den Welten oder ewiges Leben: Vermutlich gäbe es ohne die letzte Frage weder Kunst noch Religion.

In einer Szene streifen die Tänzer silberne Röcke über, Symbole für die in vielen Kulturen gebräuchlichen Totenhemden. Dann drehen sie sich und drehen und drehen mit wirbelnden Röcken. Auch der Tanz der Derwische ist eine Transition auf dem Weg vom sterblichen Körper zur unsterblichen Seele.

Doch nicht nur der antike Orpheus singt an der Schwelle des Totenreiches. Die Christen haben bereits im 7. Jahrhundert eine Melodie für die Sterbeliturgie gefunden, in der Gewissheit, dass hinter dem letzten Fluss nicht der Hades wartet. Die Antiphon „In paradisum“: Zum Paradies mögen Engel dich geleiten. Eine Utopie? Ein Trost? Das wird hier nicht gespoilert.

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