Gevelsberg. Nach Schüssen muss Ennepetaler sieben Jahre und sechs Monate ins Gefängnis. Hätte Polizei sauber gearbeitet, wäre die Strafe höher ausgefallen.
Sieben Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe. So lautet das Urteil des Hagener Schwurgerichts gegen Vitalij K., der in der Nacht auf den 6. Mai vergangenen Jahres in Gevelsberg auf Polizisten geschossen hatte. Ein turbulenter Prozess mit teils schockierenden Nebenhandlungen nahm ein Ende mit deutlichem Nachhall für die Ermittlungsbehörden. Denn: Die Vorsitzende Richterin Heike Hartmann-Garschagen machte in ihrer Urteilsbegründung deutlich: Hätte die Polizei im Vorfeld des Prozesses sauber gearbeitet, wäre die Strafe höher ausgefallen. So habe die Kammer keine andere Wahl gehabt, als das Verhalten einzelner Beamter wie auch die gesamte Aktenführung strafmildernd zu werten.
Viel ist aus der Anklageschrift, die von dreifachem versuchten Mord an Polizisten dominiert war, am Ende der Hauptverhandlung nicht mehr übrig geblieben. Zwei versuchte Tötungen fielen ganz weg, vom versuchten Mord an dem Polizeibeamten, den der 37-jährige Ennepetaler auf der Mühlenstraße in Gevelsberg im Rahmen einer Verkehrskontrolle umgeschossen hatte, blieb ein versuchter Totschlag übrig. Dazu kamen ein tätlicher Angriff gegen Vollstreckungsbeamte, gefährliche Körperverletzung sowie ein Verstoß gegen das Waffengesetz. Für den Laien kaum noch nachvollziehbar: Die Tat, die am Ende den Strafrahmen vorgegeben hat, war nicht mehr der Totschlag sondern das bewaffnete Handeltreiben mit Heroin. Das Besondere in diesem Fall: In der juristischen Bewertung waren sich Staatsanwalt Nils Warmbold, Verteidiger Andreas Trode sowie die Mitglieder des Schwurgerichts um die Vorsitzende vollkommen einig.
Unfassbare Kokainkonzentration
Für das Gericht stellen sich die Ereignisse in der Nacht wie folgt dar: K. hatte in Dortmund 52 Gramm Heroin gekauft, um diese weiterzuverkaufen. Der 37-jährige, der seit mehr als 20 Jahren von diversen Rauschmitteln abhängig ist, finanzierte so seinen immensen Kokainbedarf. Auch in der Tatnacht hatte er massiv konsumiert. Ein Sachverständiger hatte mitgeteilt, dass er in seiner Laufbahn selten bis nie eine derart hohe Kokain-Menge in Blut festgestellt hatte. K. hatte zudem seine Pistole dabei, mit der er sich vor seinen Dealern schützen wollte. In Gevelsberg war er nur zufällig, weil er sich im Koksrausch verfahren hatte. Ebenso zufällig wurden die beiden Beamten auf seinen Wagen aufmerksam. Dieser trug ein Oberhausener Kennzeichen. Das machte ihn verdächtig, weil diese Kennzeichen in Verbindung zu Automatensprengern standen. Die Beamten hielten ihn an.
Verlief die Kontrolle zunächst noch entspannt, ist das Gericht davon überzeugt, dass Vitalij K. mitbekommen hat, dass gegen ihn ein Haftbefehl vollstreckt werden sollte. Und jetzt wird es juristisch kniffelig. Denn: Die Juristen sind nach der Einlassung des Angeklagten und nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. Nikolaus Grünherz der Auffassung, dass K. nicht geschossen hat, um sich der Festnahme zu entziehen, sondern einzig, um keinen Entzug machen zu müssen. „Er hörte die Gespräche und bekam erhebliche Angst vor den Entzugserscheinungen. Die Kammer glaubt, dass er vor den körperlichen Folgen des Entzugs Angst hatte, nicht vor der Verhaftung“, sagte Hartmann-Garschagen in ihrer Urteilsbegründung. K. schoss auf die Beamten und floh.
Die meiste Zeit bis zu seiner Festnahme verbrachte er in dem Hinterhof, konsumierte dort weiter Kokain und war nicht mehr in der Lage dazu, sich wegzubewegen, bis die Männer des SEK kamen und ihn festnahmen. Er litt unter einer illusionären Verklärung.
Täter und Opfer nicht vertauschen
Das Urteil setzt sich am Ende aus diversen Dingen zusammen. Schlecht für den 37-Jährigen war, dass er einschlägig vorbestraft war. Noch schlechter war die Heftigkeit seiner Tat. „Wir können am Ende von Glück reden, dass der Angeklagte in die schusssichere Weste getroffen hat und der Polizeibeamte nicht verstorben ist“, sagte Hartmann-Garschagen. Auf der anderen Seite stehen die Dinge, die das Gericht als Strafmildernd einstufte. Da war zunächst das Standardprogramm wie sein Geständnis, dass die Verletzungen des Beamten nicht sehr schlimm waren, seine Drogenabhängigkeit und dass er von dem Schuss des SEK in seinen Oberschenkel bleibende Schäden davon getragen hat und selbst in Lebensgefahr schwebte.
Doch dann wurde es spannend: „Der Angeklagte ist von den Polizeibeamten erheblich beschimpft worden. Am Tatort wie auch später im Krankenhaus“, begann die Richterin, bevor sie den wirklichen Hammer auspackte: „Wir haben eine Akte, die bestimmte Dinge stärker heraushebt als andere. Das mag Zufall sein, aber man muss sagen, dass durch eine solche Aktenführung die Verteidigungsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt sind. Der Verteidiger hat seine Vorwürfe zu Recht erhoben.“ Der hatte in seinem Plädoyer ausgeführt, dass Dinge, die den Angeklagten belasten bis ins Detail ermittelt und verschriftlicht worden waren, entlastende Dinge weder aufgeschrieben noch angesprochen wurden.
An Beispielen mangelte es im Prozess zu keinem Zeitpunkt. Projektile wurden nicht korrekt untersucht, Videos nur zum Teil protokolliert oder vom Leiter der Mordkommission gar nicht bis zum Ende angeschaut. Verteidiger Trode: „Ich möchte hier nicht Täter und Opfer vertauschen, aber weil die Polizei ihn derart vorverurteilt hatte, musste er sich Dinge, die der Rechtsstaat ihm garantiert, hier schwer erkämpfen.“ Nachdem der Staatsanwalt acht Jahre und neun Monate Haft gefordert hatte und der Verteidiger sechs Jahre und sechs Monate, fand sich die Kammer beim Strafmaß ungefähr in der Mitte ein.