Hagen. Wenn ich einmal reich wär! Warum das Musical Anatevka in Hagen vom Publikum begeistert gefeiert wird.
Marc Chagalls Geiger auf dem Dach ist das Bild schlechthin für die verschwundene jüdische Welt Osteuropas. Der Fiedler, der stets vom Absturz bedroht dennoch musiziert, steht für Überlebenswillen angesichts übermächtiger Gefahren. Chagalls Gemälde hat einem der beliebtesten Musicals seinen Namen verliehen. Das Theater Hagen zeigt Anatevka (The Fiddler on the Roof) jetzt als lebenspralle Milieustudie zwischen Tragödie und Komödie. Die Produktion wird schon bei der Premiere zu einem Theatererfolg, wie er in Hagen auch vor Corona lange nicht erlebt wurde. Das Publikum steht sofort auf und bejubelt mit lautem Beifall ein engagiertes Ensemble und ein hervorragendes Orchester.
Das Kostümbild von Yvonne Forster mit seinen gedeckten Grau- und Blautönen spiegelt einerseits die Kleidung der armen Leute am Ereignishorizont der russischen Revolution. Gleichzeitig klingt mit diesen Farben die Welt Marc Chagalls an, in der Liebespaare fliegen können. Auch die Bühnenarchitektur von Alfred Peter zitiert den großen Maler, indem sie mit einer windschiefen, spitzgiebligen Häuserzeile einen „unmöglichen“ Raum schafft, in dem Privat und Öffentlich verschwimmen und der bildstark die soziale Enge visualisiert, in der Milchmann Tevje mit seiner Frau und seinen fünf Töchtern seinen Alltag bewältigen muss.
Klatsch und Tratsch und aufmüpfige Töchter
Das Schtetl ist Schutz und Zufluchtsort, aber der Preis dafür ist hoch: Neugierige Nachbarn, Klatsch und Trasch und kaum Möglichkeiten der individuellen Lebensführung, dazu die ständige Bedrohung durch Pogrome und andere Übergriffe. Jerry Bock und Joseph Stein, Anatevka-Komponist und Autor, siedeln die Handlung an einem Wendepunkt an, wo Innen und Außen sich nicht mehr voneinander trennen lassen. Der Student Perchik (Michael Mayer) bringt die neuen revolutionären Ideen nach Anatevka, und Tevjes drei älteste Töchter überlassen ihre Zukunft nicht mehr der Heiratsvermittlerin (Kristina Günther) und dem Vater, sie wählen sich ihre Männer selbst, sie lernen, mit Chagall gesprochen, das Fliegen.
Anatevka ist seit 18 Monaten die erste Inszenierung, die das Theater Hagen in voller Besetzung zeigen kann; über 50 Mitwirkende, Solisten, fast alles Gäste, der großartige, individuell geführte Chor, Ballett, Statisten agieren auf der Bühne, mit Dirigent spielen 30 Musiker im Graben, und das Publikum genießt die opulente Darbietung mit den vielen Tanzeinlagen. Allerdings hat es Regisseur Thomas Weber-Schallauer mit so vielen Akteuren auf relativ beschränktem Raum gar nicht leicht, Szenenwechsel ohne Spannungsverlust zu realisieren. Es werden viele Tische und Stühle herein und wieder herausgetragen, was handwerklich immer etwas verlegen wirkt.
Die tote Braut erscheint
Die beiden Schlüsselszenen, der Traum von der toten Braut und das Gelage, sind jedoch packend konzipiert und choreographiert (Riccardo De Nigris) . So dringen die Russen in die Feier der männlichen Juden ein, und der Wetttanz beider Gruppen ist im Grunde ein ungleiches Kräftemessen, das jederzeit in offene Gewalt umschlagen kann. Milchmann Tevje macht gute Miene zum bösen Spiel.
Ansgar Schäfer legt den Tevje sozialrealistisch an, als modernen Hiob, der vom Schicksal immer wieder an einen Punkt getrieben wird, wo es eigentlich nicht weitergeht. Und so handelt dieser Tevje in seinem Ausgeliefert sein mit Gott und versucht in seiner Erschöpfung mit List und Wut, seine Bestimmung zu wenden, und wenn das nicht hilft, wird der Humor zum Überlebensmittel. Als seine Töchter sich selbst ihre Männer aussuchen, schafft er es, „andererseits“, zweimal, Vaterliebe über Tradition zu stellen. Beim dritten Mal funktioniert das fast nicht, denn Chava ehelicht einen Christen und wird zur Ausgestoßenen.
Das berühmte Lied „Wenn ich einmal reich wär“ legt Ansgar Schäfer als stimmlichen Bravourritt über mehrere Oktaven an, vom tiefen Bass mit der Imitation von Tierlauten bis zum Schrei in höchsten Tonlagen. Endlich darf auch die wunderbare Mezzosopranistin Kristine Larissa Funkhauser wieder einmal in Hagen auf der Bühne stehen, die als Tevjes lebenskluge Frau Golde weiß, dass eine verschüttete Kanne Milch den Unterschied zwischen Überleben und Verhungern bedeuten kann. Steffen Müller-Gabriel dirigiert die Partitur mit feinem Gespür für die Farben und Rhythmen, die den Broadway mit der fast untergegangenen Musik des Schtetls vermählen.
Ein anderes Ende
In den originalen Geschichten des Schriftstellers Scholem Alejchem gehen Tevjes Abenteuer nicht gut aus. Die eine Tochter begeht Selbstmord, weil sie einen Taugenichts geheiratet hat, die andere Tochter folgt ihrem Mann in die Verbannung nach Sibirien und die dritte, die mit dem Christen, gerät an einen Schläger. Tevjes Frau stirbt aus Kummer, er selbst wird von Haus und Hof vertrieben und irrt heimatlos umher.
Diesen Aspekt unterschlägt das Musical. Die Vertreibung durch den Zaren gibt in der Bühnenfassung verharmlosend den Anlass zur Auswanderung ins gelobte Land Amerika, also für ein Happy End. Geiger Werner Köhn jedoch tritt als Fieder auf dem Dach immer dann auf, wenn sich das Leben Tevjes wendet. Den letzten Ton seiner Melodie spielt er am Ende nicht.
Termine und Karten: www.theaterhagen.de