Wenden. Georg Schulte (36) aus Wenden hatte eine Frau, zwei Kinder, ein Haus, als er feststellte, dass er schwul ist. Wie er damit umgeht.

Die Kinder haben mit Fingerfarbe an die Wohnzimmerscheiben gemalt: eine Sonne, Sonnenstrahlen, ein Herz. Georg Schulte wohnt noch nicht lang hier, das Mehrfamilienhaus ist ganz neu, die Küche auch. Dort auf einer Ablage sind kleine Malereien der Kinder ausgestellt, versetzt, so dass man auch jedes Papier sehen kann. Ein Gruß zum Vatertag, der mit „Lieber Papa“ beginnt. Georg Schulte, 36 Jahre alt, hat all das gern griffbereit. Er liebt seine Kinder. Aber er liebt eben auch Männer. Seit er das weiß, ist sein Leben ein anderes. Eines mit einem Davor und einem Danach.

Eine Bilderbuchfamilie, seine Bilderbuchfamilie

Ein „typisches Sauerländer ­Leben“ habe er sich aufgebaut, sagt Georg Schulte, wenn er über das Davor redet. Wenden, eine ­Kleinstadt im Kreis Olpe, ist seine ­Heimat, Schulte arbeitet als Orthopädieschuhmachermeister, ist im Männergesangverein, im Schützenverein. Mit 28 heiratet er, die Kinder kommen schnell hintereinander, sie sind heute sechs und fünf Jahre alt. Großer Bruder, kleine Schwester. Bilderbuchfamilie. Haus gebaut. Der Spielplatz ist direkt nebenan.

Wiese.

Wald.

Wolkenkuckucksheim.

Am Ende des Tages, der alles ins Wanken bringt, sitzt er neben seiner Frau auf der Couch und berichtet ihr, dass da ein Mann gewesen sei, den er irgendwie hübsch fand. Komisch sei das gewesen. „Nicht, dass du jetzt schwul wirst“, sagt sie. Die beiden lachen.

Mit einem Junggesellenabschied fängt alles an

Es ist ein Tag im September 2018, der Junggesellenabschied eines Kumpels. Wasserskifahren, danach duschen, umkleiden. „Da habe ich jemanden gesehen, den ich unglaublich attraktiv fand“, sagt Georg Schulte. So sehr, dass es ihn selbst verstört. „Ich habe nicht sofort gedacht: Ich bin schwul“, erinnert er sich. „Aber da sind die Gedanken ins Rollen gekommen. Ich war total verunsichert.“

Schwul? Er? Nein.

Oder doch? Woher soll er das denn bitte wissen? Früher, sagt er, hat er insgeheim über Schwulenwitze gelacht. Eine Beziehung zwischen Mann und Mann erschien ihm nicht richtig.

Was fühlen Schwule?

Er ruft anonyme Beratungsstellen an, die er im Internet recherchiert, und fragt dort, was Schwule denn so fühlen. Er lacht heute etwas verlegen über sich, wenn er das erzählt. Es ist die Zeit, die alles ändert. „Das Leben, das ich kannte, stürzte zusammen wie ein Kartenhaus.“

Das echte Haus, das sie hatten, ist verkauft. Eine Zeit lang wohnten sie noch gemeinsam darin, aber es ging nicht mehr. Für niemanden. Seine Ex-Frau ist mit den Kindern ins Rheinland gezogen. Alle zwei Wochen sieht der Papa seine Kinder. Auf Schultes Balkon in seiner neuen Wohnung weht weithin sichtbar eine Regenbogenfahne an einem Fahnenmast.

Seinem Bruder vertraut sich Schulte als erstes an, dann engen Freunden. Er sucht dringend Antworten bei anderen, ohne zu ahnen, dass nur er sie geben kann. „Ich habe mein Leben immer als sehr normal empfunden. So wird es einem ja mehrheitlich auch vorgelebt.“ Gerade auf dem Land. „Mag sein, dass ich auch früher schon mal einen Jungen oder Mann attraktiv fand, aber es hat nie Klick gemacht.“

Schwul? Er hat Angst vor der Reaktion der anderen

Ein halbes Jahr lang zermartert er sich das Hirn: Er weiß, was er fühlt, aber er weiß auch, was es bedeutet. Er hat Angst vor der Reaktion, vor dem, was sich alles ändert. Aber das Gefühl wird immer stärker, es allen sagen zu müssen, um der sein zu können, der er ist. „Und dann kommt man abends nach Hause, die Kinder springen einem in den Arm und man hat das Gefühl: Es geht noch ein bisschen.“

Den Gesichtsausdruck seiner Frau, als er es ihr sagt, wird er nicht mehr vergessen. „Ich bin ein Familienmensch, ich hatte das alles sehr gern“, sagt er. Sie macht nicht ihm Vorwürfe, sondern sich. Dass sie ihn vielleicht vernachlässigt habe. Nein, so sei das nicht, sagt er als wüsste er so genau, wie und warum das alles geschah und was er gerade fühlt. „Aber es war auch eine riesige, unbeschreibliche Befreiung, als es alle wussten“, sagt er.

Geistlicher schlägt Teufelsaustreibung vor

Seine Eltern stehen zu ihm, wofür er dankbar ist, weil er mittlerweile viele Fälle kennt, in denen das nicht so ist. Seine Freunde unterstützen ihn. „Beim nächsten Schützenfest haben mir viele Bekannte fast unmerklich zugenickt, Blickkontakt gesucht, den Daumen hoch gezeigt.“ Wir haben das mitbekommen, alles gut, soll das heißen. „Hier im Dorf habe ich keinen einzigen blöden Spruch bislang gehört.“

Woanders schon. Als er in Hamburg unterwegs war und seinen Partner küsste, spuckten Jugendliche hinter ihnen aus. Andere riefen „iiieh“. Ein Geistlicher aus dem Erzbistum Köln wollte ihm jemanden vermitteln, der Teufelsaustreibungen durchführt.

Ein beschwerlicher Weg zu sich

Schulte hat mit einigen anderen zusammen den CSD-Verein in Olpe gegründet, um einen Christopher-Street-Day vor Ort zu organisieren. Der Tag, an dem Schwule und Lesben weltweit gegen Ausgrenzung auf die Straße gehen, soll auch in seiner Heimat gefeiert werden. „Ich würde mir wünschen, dass im Alltag der Menschen positiv über das Thema gesprochen wird.“ Die gesamte Community solle in der Öffentlichkeit sichtbarer sein, das Thema präsenter, sexuelle Vielfalt vielleicht Inhalt in der Schule.

Seine Kinder haben schon gesehen, dass er mit einem Mann Händchen hält, dass er einen anderen Mann küsst. Der Große habe ­nachgefragt, warum sie das täten. „Weil wir uns lieb haben“, sagt Georg Schulte. Sein Weg zu sich war weit und beschwerlich. „Aber“, sagt er, „ich fühle mich frei und bin glücklich.“