Hagen. Kardinal Marx darf nicht zurücktreten. Der Papst schreibt den deutschen Katholiken harte Kritik ins Stammbuch. Eine Analyse

Eine Woche, nachdem Kardinal Reinhard Marx mit seinem Rücktrittsgesuch die katholische Kirche in Deutschland erschütterte und nur wenige Tage, bevor die katholischen Bistümer und Ev. Landeskirchen die aktuellen Austrittszahlen bekanntgeben werden, folgt der nächste Kanonenschlag. Der Papst lehnt den Rücktritt von Kardinal Marx ab, und die Begründung wurde auf dem Internetportal des Vatikans veröffentlicht. Sowohl das Tempo der Antwort als auch ihr Inhalt sind ungewöhnlich, denn üblicherweise stimmt der Pontifex zu, wenn ein Bischof aus dem Amt scheiden will. Doch Reinhard Marx, der Sauerländer, der es so weit gebracht hat in der Weltkirche, darf nicht gehen. Er muss Erzbischof von München und Freising bleiben. Jetzt überschlagen sich die Spekulationen, wie das in Teilen verklausulierte Schreiben von Papst Franziskus wohl zu bewerten sei. Wir stellen eine Analyse vor.

1. Personalnot

Der Papst hat Personalprobleme. Vor allem in Deutschland dürfte es in den nächsten Monaten eng werden. Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße wartet auf eine Entscheidung aus Rom. Er wird vermutlich nicht zu halten sein, zu tief ist er verstrickt in die Kölner Missbrauchs-Verbrechen. Ob der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki mit seinem Widerstand gegen einen Rücktritt durchkommt, bleibt ebenfalls offen. Doch selbst wenn der Papst Woelki im Amt lässt: Wie will der konservative Kardinal weitermachen, nachdem ihm die Gläubigen, die Laiengremien und die eigenen Dechanten das Misstrauen ausgesprochen haben? Nicht übersehen darf man die zweite Reihe. In Köln warten auch die Weihbischöfe Schwaderlapp und Puff auf ihre Weiterverwendung. Weihbischöfe wachsen ebenfalls nicht auf Bäumen. Der Priestermangel verursacht Probleme bis in die höchsten Etagen hinein. Und das alles angesichts der größten Kirchenkrise seit Martin Luthers Thesenanschlag. Der Papst wird auf Kardinal Marx nicht verzichten wollen, der nicht nur ein organisatorisches Schwergewicht unter den deutschen Bischöfen ist, sondern auch ein intellektueller Vordenker.

2. Räumt Euren Kram alleine auf!

Der Papstbrief enthält deutliche Kritik an den deutschen Bischöfen: „Ich stimme Dir zu, dass wir es mit einer Katastrophe zu tun haben: der traurigen Geschichte des sexuellen Missbrauchs und der Weise, wie die Kirche damit bis vor Kurzem umgegangen ist“, schreibt der Papst: „Wir müssen für die Geschichte Verantwortung übernehmen, sowohl als Einzelner als auch in Gemeinschaft.“ Und weiter: „Nicht alle wollen diese Tatsache annehmen, aber es ist der einzige Weg.“ Im Folgenden spricht der Argentinier: „Denn ,Vorsätze‘ zur Änderung des Lebens zu machen, ohne ,das Fleisch auf den Grill zu legen‘, führt zu nichts.“ Der Papst schließt mit der Aufforderung: „Mach weiter, so wie du es vorschlägst, aber als Erzbischof von München und Freising.“ Das lässt sich als dezidierte Aufforderung lesen, mit dem Synodalen Weg fortzufahren. Der Papst schreibt nichts dazu, wie die deutschen Bischöfe aus der Krise herauskommen sollen. Und viele, darunter Kardinal Woelki, erhoffen sich aus Rom doch so sehr gleichzeitig Absolution und Handlungsanweisung. Deshalb kann man den Papstbrief getrost als Aufforderung lesen, dass die deutschen Bischöfe ihren Stall gefälligst alleine ausmisten sollen.

3. Passion statt Mea culpa

Kardinal Marx hatte in seinem Rücktrittsschreiben von persönlicher Schuld und Verantwortung gesprochen. Seither wird diskutiert, ob er sich damit auf seine Zeit als Bischof von Trier bezieht. Trierer Missbrauchsbetroffene machen Marx schwere persönliche Vorwürfe. Er habe durch sein Verhalten dazu beigetragen, Täter zu schützen, Gespräche mit Betroffenen zu verweigern, Menschen einzuschüchtern und Missbrauch zu verharmlosen. Ein Betroffener, der mit 15 von einem Priester vergewaltigt wurde, hatte Marx erst vor einigen Wochen einen Brief geschickt, in dem er ihn hart anklagt: „Können Sie überhaupt reinen Gewissens in den Spiegel schauen?“, steht darin. Dass Marx das Bundesverdienstkreuz ablehnte, geht auf die Kritik von Trierer Missbrauchsbetroffenen zurück. Offensichtlich leidet Kardinal Marx erheblich an der Schuld, die er persönlich auf sich geladen hat. Auch aus diesem Grund spendete er den größten Teil seines Privatvermögens an Missbrauchsopfer. Ist es das, was der Papst mit dem „gegrillten Fleisch“ meint? Dass er Marx zwingt weiterzumachen, auf einen ganz persönlichen Kreuzweg schickt in einem Amt, das so viele Verführungen des Machtmissbrauchs beinhaltet? 4

4. Alles nur inszeniert

Man sollte nicht vergessen, dass der Papst selbst Kardinal Marx kurz nach seinem Amtsantritt in den Kardinalsrat berufen hat, jenes Gremium, mit dem Franziskus die Kirche reformieren will. Man kennt sich. Natürlich ist der Geseker ein Kirchenpolitiker. Und er weiß als Sauerländer, wie man einen langen Ball spielt. Daher ist es nicht ganz aus der Luft gegriffen, wenn das Rücktrittsgesuch und seine Ablehnung durch den Papst als Teil einer kirchenpolitischen Inszenierung verstanden werden. Deren Ziel ist es, die Bischöfe auf den Reformweg in Sachen Sexualmoral und Frauenweihe einzunorden. Denn die deutschen Oberhirten sind in dieser Frage gespalten. Der konservative Flügel unter der Führung des Kölners Woelki nutzt bisher geschickt jedes juristische und kanonische Schlupfloch und jede vatikanische Seilschaft, um den Reformprozess zu behindern. Das könnte dem Papst inzwischen so sehr auf die Nerven gehen, dass er zu Reinhard Marx sagt, und zwar so öffentlich wie nur möglich: „Mach weiter, so wie Du es vorschlägst.“