Hagen. Kardinal Marx , der frühere Weihbischof im Erzbistum Paderborn, gilt als integrer Mann. Jetzt kann er nicht mehr.
Geht da der Richtige? Diese bange Frage stellen sich die Katholiken angesichts des Rücktritts, den Kardinal Reinhard Marx dem Papst angeboten hat. Diesen in der katholischen Kirche beispiellosen Schritt mit einem Paukenschlag zu vergleichen, wäre weit untertrieben. Erstmals überhaupt will ein hoher Würdenträger von sich aus zurücktreten, weil er die Situation in der Kirche nicht mehr erträgt, explizit die Leugnung von systemischen Ursachen für die Missbrauchskatastrophe durch andere deutsche Bischöfe. Für Marx ist die Kirche an einem „toten Punkt“ angelangt.
„Die Diskussionen der letzten Zeit haben gezeigt, dass manche in der Kirche gerade dieses Element der Mitverantwortung und damit auch Mitschuld der Institution nicht wahrhaben wollen und deshalb jedem Reform- und Erneuerungsdialog im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise ablehnend gegenüberstehen. Ich sehe das dezidiert anders“, schreibt Marx an den Papst.
Auch als Kardinal im Schützenverein
Marx, der Westfale aus Geseke und Sauerländer ehrenhalber, der auch als Kardinal weiter Mitglied der St. Sebastianus-Schützen in Geseke bleibt, hat früh wegen seiner außerordentlichen fachlichen Qualitäten und sozialen Kompetenzen auf sich aufmerksam gemacht. Obwohl anfangs ein eher konservativer Theologe, gilt er seit seiner Zeit als Weihbischof im Erzbistum Paderborn als Hoffnung der Katholiken auf eine Erneuerung ihrer Kirche, zunächst in Deutschland und dann in Rom.
Reinhard Marx macht eine außerordentliche Karriere. Der frühere Leiter der Kommende Dortmund wird 2001 Bischof in Trier, 2007 Erzbischof in München, 2010 Kardinal. Papst Franziskus holt ihn gleich nach seiner Ernennung 2013 in seinen Beraterstab; 2014 wird der Geseker zum Koordinator des neu errichteten Wirtschaftsrates durch Franziskus berufen, 2020 wird er in diesem Amt bestätigt, bei dem Marx in erster Linie mit den skandalösen Vatikanfinanzen aufräumen soll. Ebenfalls 2014 wird Marx zum Vorsitzenden der Bischofskonferenz gewählt. Er ist erst 61 Jahre alt. Da geht noch mehr. Marx gilt sogar als papabel. Unser Mann in Rom. Der Hoffnungsträger schlechthin.
An Paragrafen klammern
Und nun verschlissen? Wer die Fotos von Marx zwischen 2014 und 2021 vergleicht, dem fällt unweigerlich auf, dass die vergangenen Jahre ihre Spuren hinterlassen haben. Der Missbrauchsskandal hat Reinhard Marx stärker erschüttert als viele Amtsbrüder. Das Verantwortungsbewusstsein, mit dem er bereits als Diakon in Menden aufgefallen war, lässt ihn über seine persönliche Mitschuld nachdenken, wo andere sich an Paragrafen klammern und ihren Vorgängern die Schuld zuweisen. „Um Verantwortung zu übernehmen reicht es aus meiner Sicht deshalb nicht aus, erst und nur dann zu reagieren, wenn einzelnen Verantwortlichen aus den Akten Fehler und Versäumnisse nachgewiesen werden.“
Wegbereiter des Reformprozesses
Der Sohn eines Schlossermeisters zieht bereits früh Konsequenzen aus dieser Situation. Der frühere Hardliner wird zum Wegbereiter des katholischen Reformprozesses in Deutschland, des synodalen Weges. Dieser Weg entwickelt sich für ihn auch zu einer Passion, denn Heckenschützen aus den Reihen der Mitbrüder schwärzen ihn in Rom an. Marx will zum Beispiel mit weiteren Bischöfen evangelische Christen in konfessionsverbindenden Ehen zur Kommunion zulassen. Der Kölner Kardinal Woelki sieht dadurch das Allerheiligste entweiht und wendet sich direkt an den Papst, der Marx zurückpfeift. Die Art, wie dieser Konflikt ausgetragen wurde, muss Marx tief getroffen haben. Vermutlich eine Folge ist sein Rückzug von der Spitze der Bischofskonferenz 2020.
Massive Erosionen
Dazu kommt die fortwährende Indolenz Roms gegenüber den massiven Erosionen in der deutschen katholischen Kirche, jüngst zementiert durch das Veto des Vatikans zur Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren. Dieses Veto geht erneut auf eine Intrige aus Deutschland zurück. Ob Kardinal Marx mittlerweile von diesen Grabenkämpfen, Schüssen in den Rücken und Verweigerungshaltungen so zermürbt ist, dass er nicht mehr kann? Der 67-Jährige leidet sichtbar unter der Schuld, welche die Kirche im Missbrauchsskandal auf sich geladen hat. 500.000 Euro aus seinem Privatvermögen hat er vor wenigen Monaten für Missbrauchsopfer gespendet. An den Papst schreibt er: „Das Übersehen und Missachten der Opfer ist sicher unsere größte Schuld in der Vergangenheit gewesen.“
Vielleicht wirkt das Rücktrittsgesuch in Rom wie der letzte Hilfeschrei, den man nicht mehr überhören kann. Vielleicht kommt Kardinal Marx wieder ins Erzbistum Paderborn zurück, wünschen die Sauerländer.
Vielleicht, und diese Hoffnung wagt kaum jemand noch zu äußern, tritt auch der Richtige zurück.