Hagen. Kunst ist ein schmutziges Geschäft, aber einer muss es ja machen. So betitelt Antony Rizzi sein Stück. Derzeit probt er mit dem Ballett Hagen

Ballerina Amber Neumann wirft ein Bein aus Plastik auf den Boden. Dann umarmt sie den Torso einer Schaufensterpuppe. Der Zuschauer liest die Szene als zarten Versuch über die Unmöglichkeit der Liebe. Die Spielstätte Opus des Theaters Hagen kennt keine Unterscheidung zwischen Publikumsbereich und erhöhter Künstlerbühne. Sie ist ideal für Experimente. Eine solche Versuchsanordnung erarbeitet derzeit der international bekannte Choreograph Antony Rizzi mit dem Hagener Ballett. „Art Is A Dirty Job, but someone has to do it – Kunst ist ein dreckiges Geschäft, aber irgendwer muss es ja machen.“ Das Theater Hagen plant, die Performance ab 19. Juni zu zeigen, als einziges Stück wird sie es voraussichtlich im Sommerhalbjahr auf den Spielplan schaffen.

Wie macht man Kunst?

„Das Publikum denkt, dass die Tanzwelt sich von der anderen Welt unterscheidet, dass sie voll von Liebe ist. Aber sie ist in Wahrheit voll von Idioten, genau wie die andere Welt“, beschreibt Antony Rizzi den Ausgangspunkt seiner Performance. Es geht um seelische Verletzungen und Mobbing im Theater, um Klischees und Rollenzuschreibungen und um die tanzimmanente Erotik versus der Sexualisierung der Körper der Tanzkünstler.

Die Hagener Compagnie setzt viele Ausdrucksebenen ein, Bewegung, Sprache, Musik, Improvisation, dazu werden Filme aus dem Jahr 1913 mit Ikonen wie Anna Pawlowa projiziert. „Wir zeigen die Geschichte des Tanzes. Wir fragen: Wie macht man Kunst? Und wir geben den Tänzern ihre Eigenverantwortlichkeit zurück.“ In Rizzis Choreographie sind die Tänzer für die gesamte Produktion verantwortlich. Sie bedienen die mobilen Scheinwerfer, die auf Rollen platziert sind, den Ton, sie entwickeln Bühnenbild und Kostüme.

Fett, hässlich und doof

Die Compagnie schreitet als Ensemble vor und zurück, mit abgehackten Bewegungen, wie an Schnüren aufgezogen. Einzelne Protagonisten treten vor: „Ich danke meinem Lehrer, der gesagt hat, wenn Du hart arbeitest, ist das überhaupt keine Arbeit. Ich danke meinem Ballettdirektor, der sagte, Deine Mittelmäßigkeit langweilt mich. Ich danke meinem Intendanten, der mich gefeuert hat, weil ich ihn auf der Weihnachtsfeier nicht gegrüßt habe. Ich danke dem Publikum für seine Buhs. Danke für gar nichts.“ Aus dem Lautsprecher hallt blechern eine Stimme: „Ihr seid alle fett, hässlich und doof, und jetzt tanzt mal schön.“

„Mir geht es um Eigenverantwortlichkeit“, beschreibt Antony Rizzi seine Arbeit. „Ich war lange Solist bei William Forsythe, und Forsythe liebte mich. Aber ich möchte nicht mehr auf Forsythe warten, der mir sagt, was ich zu tun habe“, nennt der Choreograph ein Beispiel für die Selbstermächtigung, zu der er die Compagnie ermutigen will. Denn Rizzi ist nicht nur als Schöpfer von Tanzkreationen unterwegs, sondern auch als freischaffender Ballett- und Improvisationstrainer, unter anderem für das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch.

Mit Maske und Abstand

Für die Hagener Ballettmanagerin Waltraud Körver ist dieser Ansatz wichtig. „Die Tänzer befruchten sich so wechselseitig. Und es gibt viel Gleichzeitigkeit, wie im Raum miteinander umgegangen wird. Die Compagnie gewinnt Raum und Sprache.“ Getanzt wird nach Abstandsregeln und mit Maske.

Mehrere Tänzer bewegen sich in Ganzkörper-Schutzanzügen über die Bühne. Desinfektion ist nicht nur Sache der Hände, sondern auch des Kopfes. Was ist Dreck? Desinfizieren wir nicht schon unser Denken? Corona ist für Antony Rizzi kein Feindbild. „Ich sage nicht: Das will ich, sondern ich arbeite mit dem, was da ist. Ich nehme die Re-striktionen an. Das ist Fakt, so ist es, ich gehe damit um. Es gibt keine Probleme, nur die Chance eines kreativen Umgangs.“

Im Bühnenbereich schwebt Jeong Min Kim nach vorne und bläst Seifenblasen in die Luft. „Ich hasse die Realität“, bekennt die Südkoreanerin in Richtung Publikum, „aber sie ist der einzige Ort, wo ich scharfen Kimchi kriegen kann“. Kimchi, der fermentierte Kohl, ist das Nationalgericht in Korea. Mit diesem Widerspruch ist die Janusköpfigkeit des Künstleralltags auf den Punkt gebracht: Der schöne Schein wird hart erarbeitet und bleibt stets auf humorvolle Erdung angewiesen. Wenn das Leben Dir Zitronen gibt, dann tröste dich mit Kimchi.

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