Hagen. Er lag auf der Intensivstation, wurde beatmet: Warum Heinz-Werner Schroth trotzdem als Genesener nun nicht gleich von mehr Freiheiten profitiert.

Wenn einer Wochen im Krankenhaus verbracht hat, wenn er um die Luft zum Überleben gerungen hat, dann hat sein Wort Gewicht in der Debatte um zusätzliche Freiheiten für Geimpfte und Genesene. Heinz-Werner Schroth aus Hagen hat eine schwere Covid-19-Erkrankung durchlitten und pocht trotzdem nicht auf mehr Rechte, ist vielmehr skeptisch, wenn eine Zweiklassengesellschaft entsteht.

Ihn lassen wir hier genauso zu Wort kommen wie drei andere Betroffene. Denn die neuen Bestimmungen, die in NRW gelten, teilen das Volk quasi in vier Gruppen:

  • 1. In die Menschen, die seit mindestens 14 Tagen vollständig geimpft sind.
  • 2. In die, die in den vergangenen sechs Monaten eine Corona-Infektion durchlebt haben und deren Positiv-Test mindestes 28 Tage alt ist.
  • 3. In die, die schon vor mehr als sechs Monaten die Infektion durchlebt haben.
  • 4. Und in die, die nicht infiziert waren und noch nicht geimpft sind.

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Wer in die Gruppen 1 und 2 gehört, der darf – sobald es wieder erlaubt ist – ohne Negativ-Test mit Termin in Geschäften einkaufen, sich in Biergärten setzen, in den Zoo gehen, muss bei der Einreise aus dem Ausland nicht in Quarantäne und ist auch von der Testpflicht in der Schule befreit. Wer zur Gruppe 3 gehört, der kann sich all die Rechte durch eine Impfung sichern (eine zweite ist nicht nötig). Wer aber zur Gruppe vier gehört, der wartet nicht nur auf seine Impfung, der muss sich auch weiter testen lassen. Ist das gerecht?

1. Der Geimpfte

Markus Cimiotti,ist als Pflegedirektor des  St. Marien-Krankenhaus Siegen bereits vollständig geimpft.
Markus Cimiotti,ist als Pflegedirektor des St. Marien-Krankenhaus Siegen bereits vollständig geimpft. © Mariengesellschaft Siegen | Sobczyk

Er ist vollständig geimpft – und zwar von Berufs wegen: Markus Cimiotti ist Pflegedirektor im St.-Marien-Krankenhaus Siegen. Er freut sich über den Schutz vor dem Coronavirus, aber er leitet daraus nicht das Recht auf mehr Freiheiten ab – noch nicht. „Natürlich ist Freiheit ein sehr hohes Gut“, sagt Cimiotti. Doch zum jetzigen Zeitpunkt könne nicht jeder in den Genuss einer Impfung gelangen. „Vielmehr wird durch die Impfreihenfolge einzelnen Gruppen aus gebotenen Gründen das Privileg eingeräumt, einen Schutz gegen eine schwerwiegende Krankheit zu erhalten.“

Dieses Privileg schaffe die Verpflichtung, sich solidarisch zu verhalten, bis jeder die Möglichkeit habe, eine Impfung zu erhalten. Danach sei es aber geboten, Geimpften Freiheitsrechte nicht weiter vorzuenthalten. „Dann liegt meines Erachtens auch eine Umkehr der Verpflichtung vor: Nicht Geimpfte müssen ihrerseits zum Herdenschutz beitragen, indem sie ein Impfangebot nutzen.“

2. Die kürzlich Genesene

Petra Jochheim hat kürzlich eine Corona-Infektion überstanden.. 
Petra Jochheim hat kürzlich eine Corona-Infektion überstanden..  © WP / Mike Fiebig | Mike Fiebig

Freiheiten für alle, die kein infektiöses Risiko für Mitmenschen darstellen – das befürwortet Petra Jochheim. Es ist knapp fünf Wochen her, dass sich die Herdeckerin selbst infiziert hat. Somit kann auch sie als Genesene jetzt von denselben Freiheiten profitieren wie auch Geimpfte. Die Lockerung aktiv einzufordern oder sie jetzt direkt in Anspruch zu nehmen, darum geht es ihr nicht: „Die Antikörper habe ich ja auch nicht freiwillig.“ Erstmal steht jetzt noch ein Arzttermin an, um abzuklären, ob sie sich körperlich vollkommen erholt hat. Und um zu erfragen, wie sie sich künftig als Genesene ausweisen kann. Denn wie das genau gehen kann, weiß sie noch nicht. Sie hofft, dass bald wieder Gastronomen, Kultureinrichtungen und Einzelhändler öffnen können, denn für die 55-Jährige sind diese Lockerungen auch ein Weg, die zu unterstützen, die schon lange unter den Einschränkungen leiden. Ihrer Ansicht nach hätten jetzt vor allem junge Leute eine Chance verdient, sich impfen zu lassen. Dass gerade diese Gruppe die aktuelle Regelung als ungerecht empfindet, kann sie verstehen. Dennoch sei der Schritt wichtig, um Bewegung in die Sache zu bringen: „Das tut uns dann allen gut.“

3. Der länger Genesene

Der Hohenlimburger Heinz-Werner Schroth musste wegen einer Infektion mit dem Coronavirus auf der Intensivstation behandelt und beatmet werden.
Der Hohenlimburger Heinz-Werner Schroth musste wegen einer Infektion mit dem Coronavirus auf der Intensivstation behandelt und beatmet werden. © privat | Schroth

Heinz-Werner Schroth hat die Krankheit durchlebt. Der Hagener lag mehrere Tage auf der Intensivstation, musste beatmet werden. Im November war das, was bedeutet, dass seine neu gewonnenen Freiheitsrechte gerade wieder ablaufen, weil die Halbjahresfrist endet. Für Schroth aber spielt das keine große Rolle. „Ich freue mich für die, die nun wieder mehr dürfen. Ich persönlich finde aber eine Zweiklassengesellschaft bei Freiheitsrechten für Geimpfte und Genesene nicht gut“, sagt der 75-Jährige.

Er lebt wie zuvor auch, sagt er: trifft sich nicht, trägt Maske, hält Abstand, geht auch nicht shoppen. Das einzige, was er gern im Sommer tun würde, wäre ein Kurzurlaub an der Ostsee. Die Bescheinigung vom Hausarzt, dass er das Virus schon hinter sich hat, hat er seit wenigen Tagen in der Tasche, man weiß ja nie. Ende Mai wird er geimpft, die einfache Dosis reicht Genesenen, um voll geschützt zu sein und mehr zu dürfen als andere.

Die Vorteile, die er und viele andere besonders ältere Menschen nun haben, die hätte er lieber Jüngeren gewünscht. „Die jungen Menschen sind doch die, die mobil sind, die arbeiten gehen sollen und wollen. Von Schülerinnen und Schülern ganz zu schweigen“, sagt Schroth, der bis vor sechs Wochen mit den Nachwirkungen der Krankheit zu kämpfen hatte. „Das Zittern war so stark, dass ich meine Kaffeetasse mit beiden Händen nehmen musste. Und bei Spaziergängen hätte man meinen können, ich hätte einen getrunken, weil die Motorik noch angegriffen war.“ Er mahnt: „Was ich durchgemacht habe, wünsche ich keinem. Deswegen: Lasst euch impfen.“

4. Der Noch-nicht-Geimpfte

Der Iserlohner Dennis Ismer (27) kann noch nicht abschätzen, wann er mit der Corona-Impfung an der Reihe ist. Die Lockerungen für Geimpfte betrachtet er deshalb zwiegespalten.
Der Iserlohner Dennis Ismer (27) kann noch nicht abschätzen, wann er mit der Corona-Impfung an der Reihe ist. Die Lockerungen für Geimpfte betrachtet er deshalb zwiegespalten. © Privat | Ismer

Dennis Ismer sitzt seit Beginn der Pandemie vor allem zu Hause. Wenn er das Haus verlässt, hält er sich an alle Vorsichtsmaßnahmen: Abstand halten, Maske tragen, Kontakte reduzieren. Selbst die Arbeit erledigt er seit fast einem Jahr nur noch im Homeoffice, seine Freunde trifft er nicht. Eigentlich geht der Iserlohner gerne ins Theater oder besucht den Zirkus, das war schon lange nicht mehr möglich. Und so bald wird sich das auch nicht ändern, denn mit 27 Jahren steht er weit hinten in der Impfreihenfolge. „Mir fehlt einfach die Perspektive, wie es weitergeht.“ Dass Geimpfte jetzt wieder mehr Freiheiten erhalten, findet er einerseits richtig. Andererseits habe die Regierung ihre Prioritäten falsch gesetzt. Während er, wie viele andere Berufstätige auch, die Gesellschaft am Laufen halte und sich zum Schutz der verwundbaren Gruppen solidarisch verhalte, bekomme er dafür jetzt nichts zurück. Im Gegenteil: „Anstatt dass man sich jetzt mit den jungen Leuten solidarisch zeigt, werden wir bestraft, dass wir uns an die Regeln halten.“ Er willl sich impfen lassen, sobald er an der Reihe ist: „Sogar mit Astrazeneca.“

>> INFO: So viele Menschen können aktuell in der Region profitieren

Wie viele Menschen profitieren eigentlich von den neuen Regeln? Je nach Stadt und Kreis sind es
9 bis 12 Prozent der Gesamtbevölkerung
, die aktuell als Genesene oder Geimpfte von mehr Freiheiten profitieren könnten.

Hinzu kommen noch die Genesenen, deren Positiv-Test älter als sechs Monate ist und die nun noch eine Impfung benötigen, um mehr Freiheitsrechte zu bekommen. Sie machen 0,5 Prozent (Siegen-Wittgenstein) bis 1 Prozent (Olpe) der Bevölkerung aus.