Hagen. Eigentlich sollte die Bevölkerung in NRW gleichmäßig geimpft werden. Doch etwa in Hagen liegt man weit vor vielen anderen. Wie kann das sein?
Die Tür von Kabine 8 öffnet sich zu einem neuen Leben. Ingeborg Müller, 71 Jahre alt, schreitet hindurch, setzt sich neben ihren Mann auf einen Stuhl. Ein Helfer im blauen Pulli eilt heran. „Möchten Sie etwas trinken?“ Die Dame möchte nichts. Sie ist zufrieden, wie es ist, denn sie hat bekommen, was sie wollte: Die Impfung gegen das Coronavirus.
„Ich bin erleichtert“, sagt sie. Ihr Mann ist auch schon geimpft, ein erster Schutz ist schonmal da, das macht das Leben wieder etwas lebenswerter. Sechs Enkelkinder hat das Ehepaar, vier wohnen bei ihnen mit im Haus. Vielleicht wird alles bald gut. „Wir wären eigentlich noch gar nicht dran, aber unser Vorteil ist, dass Hagen so schnell ist beim Impfen“, sagt Klaus-Dierck Müller, 72 Jahre alt. In anderen Regionen sind jetzt erst die 77- oder 78-Jährigen aufgerufen, sich impfen zu lassen. Hagen hat Impfungen für alle über 70 freigegeben.
Land sagt: Der Impfstoff wird gerecht verteilt
Dabei müsste die Impfquote überall annähernd gleich sein. „Der vorhandene Impfstoff wird gerecht verteilt“, sagt Miriam Skroblies, Sprecherin im von Karl-Josef Laumann (CDU) geführten NRW-Gesundheitsministerium. Doch die Unterschiede sind groß. In Hagen haben 23 Prozent der Bürger bereits die Erstimpfung erhalten – das ist der Spitzenplatz in ganz NRW.
Im Märkischen Kreis („Wir impfen entsprechend den Vorgaben der Coronavius-Impfverordnung mit dem Ziel, alle Termine zu vergeben“) sind aktuell nur 15,9 Prozent der Bürger geimpft, knapp darüber liegt der Ennepe-Ruhr-Kreis. In Siegen-Wittgenstein sind es 16,3 Prozent der Bevölkerung. Das stimmt Landrat Andreas Müller (SPD) froh. „Das entspricht praktisch genau dem Bundesschnitt.“ Trotzdem schaut man hier wie auch in anderen Kreisen etwas verwundert nach Olpe (Quote: 22,4 Prozent) und nach Hagen. Woran liegt es, dass der Wert dort viel höher ist? Was macht Hagen besser als andere Städte und Kreise? Eine Spurensuche.
Das Büro von Lars Stein (40) liegt hinter einer schweren Feuerschutztür. Nur das Nötigste auf dem Schreibtisch: Laptop, Drucker, Flasche Wasser, paar Papiere. Die Uhr an der Wand geht um Stunden falsch, aber auf die Uhr schaut hier keiner. Im Zwei-Schicht-System wird von 8 bis 20 Uhr gearbeitet, manchmal länger. „Der Ablauf lebt vom Einsatz aller“, sagt Stein, der organisatorische Leiter des Impfzentrums Hagen. Wie es andere machen, weiß er nicht, er weiß nur, wie es in Hagen zugeht, wo sich das Impfzentrum zum Stolz der Stadt entwickelt: bestens organisiert, alle freundlich, alle hilfsbereit. Das berichtet jeder, der da war.
Hagen kann schon bald sagen: Die nächste Kategorie, bitte
„Es kann sein, dass wir die über 70-Jährigen im Laufe der kommenden Woche geimpft haben werden. Dann wäre die nächste Kategorie dran“, sagt Stein. Dass Hagen so gut dastehe, habe viele Gründe. So werde stets der gesamte zur Verfügung stehende Impfstoff vom Land abgerufen. Immer donnerstags geht die Bestellung für die nächste Woche raus. „Und am Ende der Woche ist der Kühlschrank leer.“
Die Termine würden mittlerweile nicht mehr Wochen im voraus, sondern viel kurzfristiger über das Onlinebuchungssystem und manchmal auch unbürokratischer vergeben. Die pharmazeutische Leitung arbeite sehr akribisch, gewinne aus den Fläschchen fast immer mehr als das Minimum. Vorgesehen sind sechs Impfdosen bei Biontech – sieben sind aber möglich. 17 Prozent mehr. Bei Astrazeneca sind es sehr häufig zwölf statt zehn Impfdosen – also 20 Prozent mehr.
Auch interessant
Vergangene Woche wurde über Nacht von sieben auf zehn Impfstraßen erweitert. Als Frau Müller aus der Kabine schreitet, zeigt das Onlinesystem 27 Wartende an. Bei aller gebotenen Fürsorge und Geduld wird auf Masse gearbeitet. „Natürlich schauen wir nach links und rechts auf die anderen Städte und Kreise. Wir sehen das sehr sportlich und wollen einen guten Job machen“, sagt Stein.
Land spricht von „unterschiedlichem Organisationsgrad“
Das Gesundheitsministerium hat keine belastbare Begründung, warum Hagen oder Olpe nun so weit vor den anderen Kreise liegen. Es gibt allenfalls Erklärungsversuche. Es könne etwa an unvollständigen Datenmeldungen zum Impfgeschehen liegen, sagt Laumann-Sprecherin Miriam Skroblies. Oder aber an der optimalen Ausnutzung der Impfdosen, wie in Hagen. „Klar ist: Je nach Organisationsgrad vor Ort kann das Impftempo unterschiedlich schnell ausfallen.“
Doch so einfach wollen sich Kreise mit einer geringeren Impfquote die Begründung nicht machen. So etwa im Ennepe-Ruhr-Kreis, wo man inzwischen das Impfzentrum unter Volllast fährt, die Öffnungszeiten erweitert und zusätzlich noch eine Drive-In-Impfstation für Autofahrer aufgebaut hat. „Das haben wir alles in kürzester Zeit geschafft“, sagt Kreissprecher Ingo Niemann. „Verimpft werden kann aber nur das, was an Dosen geliefert wird.“ Und davon gebe es zu wenig. „Was wir haben, wird sofort zu nahezu 100 Prozent genutzt.“
Auch interessant
Landrat hat noch keine Antwort von Laschet erhalten
Auch der Landrat von Siegen-Wittgenstein ist überzeugt, dass sowohl das Impfzentrum als auch die Hausärzte problemlos in der Lage wären, deutlich mehr zu impfen. Andreas Müller hatte schon vor drei Wochen in einem Brief an Ministerpräsident Armin Laschet die dringliche Bitte um zusätzliche Impfkontingente aus den Reserven des Landes geäußert. Weil der Kreis aktuell sehr betroffen sei von Corona. Und weil auch die Nachbarkreise in Rheinland-Pfalz mit zusätzlichen Impfstoffmengen versorgt würden. Doch eine Antwort von Laschet ist bis heute nicht eingegangen.
>> HINTERGRUND: 72 Prozent bekommen Biontech
Kann der unterschiedliche Anteil von Über-80-Jährigen ein Grund sein, warum es zwischen den Kreisen so große Unterschiede gibt?
Theoretisch ja. Denn zu Beginn der Impfkampagne ist der Impfstoff nach der reinen Bevölkerungszahl zugeteilt worden. Der Ennepe-Ruhr-Kreis mit vielen Über-80-Jährigen könnte davon betroffen sein. „Aber der Effekt müsste eigentlich weitgehend ausgeglichen sein, da wir diesen Kreisen Sonderdosen zur Verfügung gestellt haben“, so Ministeriumssprecherin Miriam Skroblies. Inzwischen ist man dazu übergegangen, sich den speziellen Bevölkerungsanteil anzuschauen. Konkret: Derzeit läuft schrittweise pro Jahrgang die Terminvergabe für die Über-70-Jährigen. Das Land schaut sich in den Kreisen den Anteil der 75- bis 79-Jährigen an und verteilt danach die Dosen.
Wie steht die Region insgesamt bei der Impfkampagne da?
Offensichtlich gut. „Was die Erstimpfungsquote der Bevölkerung angeht, liegt Westfalen-Lippe im bundesweiten Vergleich aktuell auf dem vierten Platz“, vermeldet die Kassenärztliche Vereinigung auf Basis des Impfquotenmonitorings des Robert Koch-Instituts. Rund 18 Prozent der westfälisch-lippischen Bürger sind einmal geimpft – das sind fast 1,5 Millionen Menschen. Bundesweit sind es 16,3 Prozent.
Nach welchem Kriterium sind die Menschen geimpft worden und mit welchem Impfstoff?
Rechnet man noch alle Zweitimpfdosen in Westfalen-Lippe hinzu, dann sind bislang rund 2 Millionen Impfdosen verabreicht worden: 72 Prozent davon kommen vom Hersteller Biontech, 25 Prozent von Astrazeneca und 3 Prozent von Moderna. Wenn man auf die Impfzentren schaut, in denen rund 917.000 Menschen ihre Erstimpfung erhalten haben, dann geschah das bei 34 Prozent aufgrund ihres Berufs, bei 57 Prozent aufgrund des Alters und bei 9 Prozent aufgrund einer medizinischen Indikation. Übrigens: Weder die Kreise noch das Ministerium haben Erkenntnisse, dass irgendwo Impfstoff bis auf einzelne Rest-Dosen ungenutzt vernichtet werden mussten.