Torben Kuschel ist Geografie-Student – und Autist. Der Hagener berichtet über Missverständnisse, Erfolge und seine Suche nach der großen Liebe.

Torben Kuschel aus Hagen ist 22 Jahre alt, Student und Autist. Er spricht über sein Leben:

Bestimmte Botschaften zu entschlüsseln, das ist schwer für mich. Wie zum Beispiel in der Grundschule, als eine Lehrerin zu mir sagte: Wenn dir das hier nicht passt, dann geh‘ doch. Sie hatte das eher mit einem Augenzwinkern gemeint. Das sind Momente, die ich nicht deuten kann, die ich nicht verstehe. Deswegen ging ich. Ein Missverständnis von vielen. Nicht schlimm. Schlimmer ist, auf Ablehnung zu stoßen und ausbleibende Hilfe zu erfahren.

Ich habe eine Behinderung: Asperger-Syndrom, eine Form des Autismus, die es mir schwermacht, Zwischentöne richtig zu deuten. Das sind Signale, die ich nicht ­sehen kann. Im Zwischenmenschlichen bin ich sozusagen ein Analphabet. Ich nehme die Worte manchmal sehr genau, wie damals in der Schule, als ich einfach ging. Wie damals an dem Tag, als mein Vater mir bei einer Veranstaltung ein Parfüm gab: Pass darauf auf, sagte er. Als er mich auf der Rückfahrt fragte, wo das Parfüm sei, hatte ich es stehengelassen. ­Niemand hatte gesagt, ich solle es mitnehmen. Aber aufgepasst hatte ich gut.

Er kämpft mit seiner Mutter für seine Schullaufbahn

Das ist meine Welt, meine etwas andere Welt, in die manche Menschen nicht vordringen können, manchmal auch nicht vordringen wollen. Ich studiere Geografie im dritten Semester, worauf ich heute sehr stolz bin. Denn der erste Satz, den meine Mutter in der Grundschule gehört hat, war: Ihr Junge ist doof, der gehört auf eine Sonderschule.

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Damals in der zweiten Klasse bekam ich die Diagnose. Der Schulpsychologe hatte mich – eher zufällig, weil in anderer Sache unterwegs – an der Heizung kauernd entdeckt. Ich sollte auf eine Sonderschule abgeschoben werden. Aber meine Mutter und ich haben gekämpft, da wir endlich wussten, warum ich bin, wie ich bin. Mit der Diagnose wurde es leichter für alle. Nicht immer, aber oft.

Ich habe bis heute einen Integrations- bzw. Studienhelfer, der mich begleitet, wenn ich das Haus verlasse. Auf der Realschule war das eher mein Bodyguard, weil meine Mitschüler mich gemobbt haben. Später auf dem Gymnasium waren es manche Lehrer, die mich spüren ließen, dass ich nicht willkommen war. Ich machte ihnen Arbeit, weil ich spezielle Prüfungsunterlagen brauchte.

An der Uni ist es schwer in Cliquen reinzukommen

Es war ein langes, zähes Ringen, damit ich und meine Beeinträchtigung ernst genommen werden. Inklusive aller Rückschläge: Meine Französisch-Lehrerin hat mal zu mir gesagt, dass ich mir meine Probleme nur einrede. Sie hat meine Diagnose einfach ignoriert. Ich hatte auch Integrationshelfer, die sich mit Lehrern gegen mich verbündet und mich beleidigt haben. Es gab Momente, in denen ich an Selbstmord dachte.

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Meine Beeinträchtigung sieht man mir nicht an. Ich kann viel allein, aber nicht alles. Deswegen wohne ich noch zu Hause. Für mich ist es schwer, Kontakte zu knüpfen. An der Uni sind alle nett zu mir, aber es haben sich schon Cliquen gebildet, in die man schlecht reinkommt – zumindest, wenn man so wie ich ist. Neue Leute kennenlernen kann ich am besten, wenn Gruppenarbeiten stattfinden, wenn andere sozusagen gezwungen sind, mir eine Chance zu geben. Es fällt mir wegen meiner Beeinträchtigung nun mal sehr schwer, auf Menschen zuzugehen, Smalltalk zu machen. Eine auditive Wahrnehmungsstörung und Schwerhörigkeit, die ich seit 2016 habe, machen es nicht leichter. Kommt es dann zum Austausch mit anderen, können Missverständnisse die Folge sein, weil ich nicht verstanden werde oder weil ich den Gesprächspartner nicht richtig verstehe.

Zwischenfall an der Uni: „Sie dachte, ich wollte sie anmachen“

An der Uni gab es mal einen Zwischenfall mit einer Kommilitonin: Sie dachte, ich wollte sie anmachen, was aber nicht der Fall war. Ich merke aber immer erst, dass die Sache problematisch wird, wenn es zu spät ist, wenn sich die Laune meines Gegenübers verschlechtert. Und wenn ich dann versuche, das zu klären, sind die meisten noch genervter. Wir haben diesen Fall irgendwann später mithilfe meines Studienbegleiters klären können und sind im Guten auseinandergegangen. Mein Studienbegleiter ist über 70 Jahre alt, er kennt mich und weiß mit Asperger umzugehen. Er kann dann anhand einer Wiedergabe dessen, was wer gesagt hat, erkennen, wo das Missverständnis lag. Kompliziert ist das manchmal.

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Meine Lebenswirklichkeit ist eben eine andere, das macht es schwer. Menschen in meinem Alter ziehen gern – wenn nicht gerade Pandemie herrscht – um die Häuser, gehen in Kneipen und Discos, verreisen. Ich sammle lieber Steine, interessiere mich für Mineralien, für Pflanzen, ich wandere gern. Umso mehr sehne ich mich nach einer Partnerin, nach jemandem, mit dem ich diese Interessen teilen kann. Diesen Wunsch habe ich schon länger. Ich möchte auch mal Kinder haben, ihnen die Welt zeigen und mit ihnen etwas erleben.

Auf der Schule war ein Mädchen, das mich interessierte, aber ich habe mich nicht getraut, sie anzusprechen. Eine Beziehung, das habe ich gelesen, kann für Menschen mit Beeinträchtigung auch dazu führen, den letzten Schritt in die Selbstständigkeit zu machen. Aber die eine Frau zu finden, ist so schwer. Eine Zeit lang habe ich die Dating-App Tinder ausprobiert, aber das hat nicht gut funktioniert.

Große Hoffnung setzt Torben Kuschel in Kontaktbörse Herzenssache

Umso mehr Hoffnung steckt in einer anderen Kontaktbörse: Herzenssache heißt die. Das ist eine Plattform, auf der sich ausschließlich Menschen mit Behinderung treffen können. Wer aufgenommen werden will, muss sich in Würzburg persönlich vorstellen, die Aufnahmegebühr von 20 Euro sowie einen Monatsbeitrag von einem Euro zahlen und alle Papiere mitbringen. Man schreibt in seinen Account, wer man ist, welche Interessen man hat und was man sucht: eher kurzfristige Bekanntschaften oder – wie ich – eine Beziehung. Es haben sich auch schon zwei Frauen gemeldet, die mich kennenlernen wollen.

Es ist ein schönes Gefühl, dass uns Menschen mit Beeinträchtigung dort eine Chance gegeben wird, die wir vielleicht sonst nicht haben: Jemanden kennenzulernen ohne jedes Vorurteil des anderen. Ich würde mir wünschen, dass es diese Plattform auch in anderen Städten gibt, damit jeder Mensch mit seinen Besonderheiten die Möglichkeit hat, andere zu treffen. Menschen, die besonders sind: wie ich.

>> SERIE: Mein Leben

  • Die Serie „Mein Leben“ befasst sich mit Menschen, die sich rechtfertigen müssen, weil sie sich für einen Lebensentwurf entschieden haben, der nicht der Norm entspricht – oder weil sie Ansichten haben, die ungewöhnlich scheinen.
  • Oder weil sie in ein Leben hineingeboren wurden, das ihnen Vorurteile und Diskriminierungen beschert. Wie tolerant ist unser Miteinander also?