Hagen. Auch in Zeiten von Netflix und Co. gibt es noch Videotheken. Wer steht da hinterm Tresen, wer sind die Kunden? Auf eine Spielfilmlänge zu Besuch.
Ein bisschen macht ihm das schon zu schaffen. Dass die Leute denken, so etwas wie ihn und seinen Laden gäbe es nicht mehr. Aber Holger Schrickel – kariertes Hemd, hohe Stirn, freundliches Gesicht – hat ein zu mildes Gemüt, um wirklich erbost zu sein. 65 Jahre alt ist er jetzt, seit 1981 führt er den Laden mit dem zauberhaft antiken Namen „Video Treff“ in Hagen-Hohenlimburg.
Ein Ort, an den sich Menschen leibhaftig begeben, um sich einen Film auszuleihen, den sie in einer Plastikhülle aus dem Laden tragen, zu Hause in ein Abspielgerät legen und ein paar Tage später wieder zurückbringen. Aus der Zeit gefallen? Vielleicht. Auf eine Spielfilmlänge zu Besuch in der Videothek. Das Genre? Eine Mischung aus Dokumentarfilm, Romanze, Tragödie.
Die ältere Generation tummelt sich eher im Erwachsenenbereich
Klein ist der Laden – und leer. In selbst gezimmerten Spanplattenregalen liegen die Filme, links die Klassiker, rechts die Neuheiten, hinter dem beigefarbenen Vorhang noch der Bereich für die Erwachsenen. Ach, komm, nennen wir es beim Namen: Pornos. Gehen auch immer noch ganz gut, sagt Schrickel. Vor allem die ältere Generation schrecke vor einem falschen Klick im Internet zurück. Da gehen sie lieber zum Holger.
Ganz vorn in der Auslage: bulgarische Weine. „Als zweites Standbein“, sagt Schrickel. Auf einem Bein kann man ja nicht stehen. „Das hier bewegt sich alles am Rande des Existenzminimums.“
Früher hatte er vier Videotheken und reichlich Konkurrenz. „Bis auf eine andere“, sagt er, „sind in Hagen alle weg.“ Ähnlich das Bild in der Region: Die letzte Videothek im Siegerland schloss 2018. 6200 Videotheken gab es in Deutschland 1997. Höchststand. 200 sind geblieben, schätzt der Interessenverband des Video- und Medienfachhandels in Deutschland.
Schrickel ist auch noch da. Er macht mittlerweile alles selbst: den Verleih, die Reinigung, die Büroarbeit. Er hat wieder geöffnet. Trotz Corona-Zeiten, in denen Viren die Menschen weltweit in Atem halten und sogar in den Nachrichten die Rede von Mutanten ist. So Zeugs gab’s früher nur im Film. „Outbreak – lautlose Killer“ mit Dustin Hoffman. Ist die Videothek so aus der Zeit gefallen, dass sogar die Politik sie vergessen hat? In der Coronaschutzverordnung des Landes NRW wird sie nicht explizit erwähnt. Die Stadt Hagen richtet aus, dass Videotheken wie Büchereien betrachtet werden. Diese haben seit Montag wieder geöffnet.
Die meisten sind Stammkunden - alle geführt auf einer Karteikarte aus Papier
Über Schrickel auf einem Regal thront ein goldener Oscar. Den hat ihm ein Kunde verliehen. „You are the best“ steht da drauf. Du bist der Beste. Schrickel schaut in seinen Laden mit dem Kunststoffboden in Schachbrettmuster. Hier gibt’s keine Könige und keine Bauern, hier sind alle gleich. „Zu meinen Kunden gehört der einfache Arbeiter genauso wie der Unternehmer. Und zwar in jedem Alter: Von 18 bis 80.“
Die meisten sind Stammkunden, kommen jede Woche vorbei. Jeden Einzelnen führt er auf einer Karteikarte. Tausende schmiegen sich in zwei großen Boxen aneinander.
Ach, früher. „Das war die Filmzeit.“ Das Wort „die“ betont er, indem er es in die Länge zieht. Die 80er und frühen 90er Jahre, als es noch keine Raubkopien im Internet gab und auch keine Streamingdienste wie Netflix oder Amazon Video, die Tausende Filme und Serien nur einen Knopfdruck entfernt anbieten. Als Filme noch auf Videokassetten daherkamen, die man bei Rückgabe zurückgespult haben musste. Kostete sonst eine Mark Strafe. „Die Strafe habe ich nie erhoben“, lacht Schrickel, „oder zumindest nur bei denen, die es wirklich nicht lernen wollten.“ Später kamen DVDs, mittlerweile leiht man sich Blu-rays.
Werkstoffprüfer hat er gelernt. Aber das war nichts für die Ewigkeit. „Dass das hier meine Lebensaufgabe wird, wusste ich auch nicht.“ Er mag Filme, natürlich. Und er kennt sich aus, damit er seine Kunden beraten kann.
Film oder Fiktion: Abwicklung wegen zu wenig Arbeit
Die Tür geht auf. „Tach, Holger“, sagt einer, der Michael heißt und offenbar gerade von der Arbeit kommt. Er schaut bei den Neuheiten. Er nimmt das Schlüsselanhängerchen mit der aufgemalten Nummer vom Haken: „Faking Bullshit“. Eine Komödie mit Bjarne Mädel über eine Polizeiwache, die wegen mangelnder Kriminalfälle eigentlich abgewickelt werden soll, ehe die Beamten selbst für Arbeit sorgen. Schrickel notiert alles auf seiner Karteikarte. „Für Streaming reicht mein Internet zu Hause nicht“, sagt der 48-jährige Kunde. „Außerdem sind wir doch froh, dass wir den Holger noch haben. Den müssen wir unterstützen.“
Die Kunden interessieren sich am meisten für die Neuheiten. 20, 25 sind es pro Monat. Und die größte Auswahl habe immer noch die Videothek. 1500 Filme sind vorrätig, Abseitiges kann bestellt werden. Die russischen Produktionen könnten mittlerweile von der Wertigkeit her mit Hollywood mithalten, sagt Schrickel. Er mag Fantasy, aber auch skandinavische Thriller. Für einen älteren Kunden hat er neulich Lokführerstandsfahrten als Film besorgt. Stundenlang auf Gleisen durch die Landschaft.
Die Tür geht wieder auf. „Holger, grüß dich.“ Alle duzen den Holger. Georgios kommt rein, 52 Jahre alt. „Die ersten drei Reihen“, sagt Holger und meint den Bereich, bis zu dem die Neuheiten reichen. Georgios hat jetzt Wochenende. „Ich will mir einen Film nach meiner Wahl anschauen – und zwar dann, wenn ich die Zeit dazu habe“, sagt er. Amazon Video hat er zu Hause. Da kosten die neuen Filme aber 4,95 Euro. Bei Holger nur drei. „Fatman“ soll es sein mit Mel Gibson, dessen neuer Film neben dem von Nicolas Cage, Robert De Niro und Bruce Willis steht. Hollywoodgrößen, die Holger begleitet hat. Oder die ihn begleitet haben. Ganz wie man möchte.
Nicht nur Verleiher, auch Seelsorger
Ufuk (36) leiht ein Playstation-Spiel aus. Eine ältere Dame holt Filme für das Wochenende. Einer gibt noch einen Film zurück. Das ist die Ausbeute in den 102 Minuten.
Kino und Film, das ist nicht mehr das Gleiche wie damals. Aber der Holger und sein Laden, die sind immer noch ein bisschen wie damals. „Es geht hier ja auch nicht immer nur um Filme“, sagt Holger Schrickel, „manche Leute haben auch einfach das Bedürfnis, mal was loszuwerden. Ich musste mir schon Sachen anhören“, lacht er und winkt gespielt ab, als liebte er nicht auch diesen Teil seiner Arbeit.
Am Ende des Jahres könnte er in Rente gehen. Abschiedstour für ihn, für den Laden, für die Videotheken im Land? Den Laden womöglich für immer zuzusperren – bei dem Gedanken sammelt sich fast Flüssigkeit in seinen Augen. „Wenn es noch was abwirft“, sagt er, „mache ich noch weiter. Es macht ja Spaß.“