Lüdenscheid. Die Inzidenzen steigen - und Intensivbetten sind rar. Zumindest im Märkischen Kreis, dem Corona-Hotspot in NRW. Besuch auf der Intensivstation.
Nicht einmal ein letzter Fetzen Schutz ist dem Mann geblieben, der an das Coronavirus geraten ist. Nackt liegt er da, reglos auf Bettenplatz sechs, bäuchlings, damit sein Körper mehr Sauerstoff aufnehmen kann.
„Zu Hause zusammengebrochen“, sagt Klinikdirektor Professor Thomas Uhlig knapp, während er vor der Glasscheibe steht, die ihn vom Coronapatienten trennt.
„Heute Morgen gekommen.“
Pause.
„38 Jahre.“
Der Zimmernachbar, etwas älter, liegt auch auf dem Bauch, auch er wird künstlich beatmet. „Seit 10 Tagen da“, sagt Uhlig, „und wir wissen nicht, wie es ausgeht.“ Auf der Coronastation der Märkischen Kliniken in Lüdenscheid sind viele dem Tod gerade näher als dem Leben.
Die Stadt im Sauerland weist einen Wert von mehr als 300 Infizierten pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche aus. Der Märkische Kreis, zu dem die Stadt gehört, beklagt stabil eine Inzidenz von mehr als 200. Kein Kreis, in dem die Ansteckungszahlen höher wären. Die kleinen Krankenhäuser laufen voll. Die Märkischen Kliniken, größtes Haus in Südwestfalen, auch bald. Und dann? „Es hilft nur Hoffen und Beten, dass wir das schaffen“, sagt Uhlig. Aber wie? Das weiß er auch noch nicht.
Alarmsignal piept ohne Unterlass
Am Ende eines langen Flures liegt die Station: Linoleumboden, kühles Licht, Menschen in blauen Plastikanzügen. Aus der Überwachungszentrale blickt man rundherum auf Glasscheiben. Hinter jeder Glasscheibe stehen zwei Betten mit Maschinen, die die Patienten überwachen: Herzfrequenz, Blutdruck, Körpertemperatur. Ohne Unterlass piept ein Alarmsignal in der Zentrale.
Wenn man wissen will, warum es vielleicht doch sinnvoll ist, das öffentliche Leben wieder einzuschränken, dann genügt ein Blick hinter die Glasscheiben. Da ist die Frau, gerade 32, von der die Ärzte dachten, dass es böse um sie stehen würde. Nun sitzt sie da, fast aufrecht, gezeichnet von den Tagen im künstlichen Koma, noch immer an die Beatmung angeschlossen. Ein Luftröhrenschnitt war nötig. Aber, mein Gott, sie sitzt und ist ansprechbar.
Britische Mutation betrifft auch die Jüngeren
Schwester Tanja hat einen Apfel und eine Banane in der Hand. Sie legt beides wieder weg, weil sie gerufen wird. Die Kollegin hinter der Glasscheibe braucht Hilfe, kann den Raum aber nicht ohne weiteres verlassen, weil ihre Kleidung mit Viren kontaminiert ist.
„Auffällig ist, dass jetzt in der dritten Welle die Patienten deutlich jünger sind, ab 30 aufwärts“, sagt Schwester Tanja. Die britische Mutation, die ansteckender und gefährlicher ist, hat dafür gesorgt, dass nun auch die, die mitten im Leben stehen, während der dritten Welle hier landen. „Das sind noch mal ganz andere Schicksale, die sich abspielen, weil das Menschen sind, die zum Teil kleine Kinder haben.“
Heimtückisches Coronavirus: Der Tod kam innerhalb von zwei Stunden
Um jeden kämpfen sie. Unter drei Wochen bleibt kaum einer, jeder Dritte stirbt trotzdem. Wer überlebt und wer nicht? Kaum vorherzusagen. Kaum zu verkraften. „Wenn die Pflegerinnen und Pfleger den Menschen, um den sie vier Wochen lang gekämpft haben, nun aufrecht sitzen sehen, dann sind sie glücklich, dieses Bild erleben zu dürfen“, sagt Professor Uhlig.
„Jeder kann sich vorstellen, was es bedeutet, wenn dieser Mensch morgen nicht mehr da wäre. Das ist aber das Teuflische an dieser Krankheit: Wir hatten schon Patienten, bei denen dachten wir, dass wir sie absehbar auf die Normalstation verlegen können – zwei Stunden später waren sie tot.“ Dieses Heimtückische beschwert auch den erfahrenen Mediziner. 30 Jahre macht Uhlig das jetzt. „Es ist enorm schwierig einem Menschen zu sagen, dass er jetzt beatmet wird – in dem Wissen, dass er es wahrscheinlich nicht schaffen wird.“
Es gibt manchmal vier, fünf, sechs, sieben Tage, in denen stirbt keiner auf der Station. Und dann wieder drei binnen 24 Stunden.
54 Betten in der Intensivpflege? „Ich weiß nicht, wie wir das machen sollten“
Ausnahmezustand seit einem Jahr, sagt Professor Uhlig. „Wochentags, samstags, sonntags, feiertags, vormittags, nachts – immer.“ Er sieht einem Mann mit tätowierten Oberarmen auf Bettenplatz acht beim Atmen zu, wie sich der Brustkorb kurz hebt und stotternd wieder senkt. Jeder Atemzug wie ein eigener Kampf. Das sei normal, sagt Uhlig, weil Mensch und Maschine bei der Entwöhnung von der Beatmung zusammenarbeiteten. Der Patient, 59, könnte über den Berg sein. Aber zu laut traut sich das niemand zu denken.
Zwischen Weihnachten und Neujahr wurden die Kapazitäten auf den drei Intensivstationen auf 54 Betten aufgestockt. 42 sind derzeit schon wieder belegt. „Wenn wir wieder auf 54 gehen müssten, wüsste ich gar nicht, wie wir das vom Personal her schaffen sollten.“ Menschen, die sich das gerade freiwillig antun, gäbe es nicht sehr viele. Menschen, die das klaglos durchhalten, auch nicht.
Pflegepersonal: Die Zuversicht weicht der Müdigkeit
Das Personal sei erschöpft, müde, nicht mehr so voller Optimismus wie noch zu Beginn der Pandemie, als man sich mit trotziger Zuversicht gemeinsam einer übergroßen Herausforderung stellte. Dieses Gefühl ist einem ermüdenden Alltag gewichen. „Das ist ein Kampf gegen Windmühlen“, sagt Schwester Tanja. „Nicht zu wissen, wann es ein Ende hat, erschwert es zusätzlich.“
Das Ende, das ahnen sie längst, ist weit entfernt. Vielleicht liegt gar das Schlimmste noch vor ihnen. „Wir machen uns große Sorgen“, sagt Uhlig, „die derzeitige Situation auf der Intensivstation ist das Resultat einer Inzidenz von 120, 130 vor zwei Wochen.“ Zwei Wochen weiter mag er gar nicht denken.