Hochsauerland. Eine Lehrerin aus dem Sauerland spricht über digitales Lernen, gezielte Angriffe auf den Unterricht, Beleidigungen und Bedrohungen.
Sie ist eine von denen, die ihren Job liebt: Eine junge, engagierte Lehrerin aus dem Hochsauerland. Aber sie und ihre Kolleginnen, so berichtet sie, verzweifeln mehr und mehr am Corona-Alltag. “Die Probleme häufen sich – und trotzdem wird nur auf uns herumgeschimpft”, sagt sie. Dauererreichbarkeit, Überstunden und Stress seien ein Problem. “Hinzu kommen Angriffe auf den Unterricht, manchmal mit Beleidigungen und Bedrohungen.”
Eindringlinge stören den Video-Unterricht
Sie hat das selbst erlebt, zweimal in der vergangenen Woche. Unter Kindern und Jugendlichen ist das zu einer Art Sport geworden, Videokonferenzen zu “crashen”, also gezielt zu stören. “Es gibt offenbar Aufrufe dazu in Sozialen Medien”, sagt die Lehrerin, die namentlich nicht genannt werden will.
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Die Masche ist recht simpel und offenbar weit verbreitet: Die Zugangsdaten zu den Videokonferenzen werden aus Naivität, Unvorsicht oder gar Lust an der Sabotage von Schülerinnen und Schülern an Dritte weitergegeben. Diese melden sich unter Kindernamen in der betreffenden Videokonferenz an – und können dort mit ausgeschalteter Videofunktion völlig anonym Unfrieden stiften.
Ungebetene Besucher machen den Kindern Angst
“Ich hatte plötzlich einen Jugendlichen in der Konferenz, der zielgerichtet und lautstark den Unterricht störte.” Die Lehrerin warf ihn aus der Konferenz und ließ ihn nicht mehr rein. Aber das Gefühl blieb: “In den Kursen, in denen das vorkam, denkst du die ganze Zeit: Kommt jetzt wieder was?”
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Kollegen und Kolleginnen von ihr ging es bedeutend schlechter. “Da haben sich auch erwachsene Personen eingewählt und Drohungen und Beleidigungen ausgesprochen.” In Hessen ermittelt die Polizei in einem Fall, in dem Fremde die Videokonferenz einer zweiten Klasse kaperten, die Lehrerin ausschlossen und pornografisches Material zeigten. “Diese Störungen sind ein ernsthaftes Problem und der Hauptgrund, warum viele Lehrer sagen: So geht es nicht weiter. Das macht vor allem den Kindern Angst und verschafft uns ein mulmiges Gefühl: Ist das noch der geschützte Bereich, der es sein sollte?“
Schüler fertigen Livestreams vom Unterricht an - und übertragen ihn ins Internet
Ein weiteres Problem vor diesem Hintergrund: Schüler, die heimlich das Handy zücken und den Unterricht am heimischen Laptop quasi live in Soziale Medien wie Tiktok übertragen. Der sonst so sichere Raum ist plötzlich von überall in der Welt einsehbar und manchmal sogar betretbar. Fremde Störenfriede im Klassenzimmer.
Kurze Sequenzen der Videos würden ohne Zusammenhang weiterverbreitet, was je nach Unterrichts-Inhalt problematisch sein könne. Fotos aus dem digitalen Klassenzimmer würden mit entsprechenden Programmen bearbeitet und im Internet veröffentlicht, Kinder oder Lehrkräfte so der Lächerlichkeit preisgegeben. “Die Folge ist, dass viele Kinder – manchmal auf Wunsch der Eltern - nicht mehr mit einem Video an der Videokonferenz teilnehmen wollen. Dann sitze ich als Lehrer zwei Stunden lang vor lauter schwarzen Kacheln auf meinem Bildschirm. Das nimmt dem digitalen Unterricht, der eigentlich gut ist und funktioniert, den Sinn.”
Selbstanspruch der Lehrer: Da sein für die Kinder
Die Lehrerin ist noch nicht lange in ihrem Beruf, aber sie befindet sich inmitten einer ersten Sinnkrise. “Es ist einfach schade: Wir wollen für die Kinder – vor allem für jene, die zu Hause nicht so umfangreich betreut werden - in dieser außergewöhnlichen Situation da sein”, sagt sie.
Der Tag beginnt für sie um sieben Uhr, es folgen nicht selten acht Stunden Unterricht per Video - zumindest, wenn nicht technische Probleme auftreten, die ein Ärgernis für sich sind. Danach muss sie die ihr zugesandten Aufgaben begutachten. Bei nur einer Handvoll Kursen wären das schon fast 150 Einsendungen, die jeder Schüler am liebsten gern quittiert hätte. Unmöglich sei das aber. Und den Unterricht für den nächsten Tag muss sie vorbereiten, was völlig anders funktioniere als im Präsenzunterricht. Erreichbar ist sie fast rund um die Uhr, um keine Fragen offen zu lassen. Bis 23 Uhr sitzt sie manchmal da und ist nicht nur gedanklich bei der Arbeit.
Fast dauerhafte Erreichbarkeit - aber manche Eltern sind trotzdem unzufrieden
Aber der Druck steigt. "Wenn man mal nicht innerhalb einer Viertelstunde antwortet, dann beschweren sich die Kinder oder die Eltern manchmal schon”, klagt sie. Nächste Nachricht: “Hallo. Warum antworten Sie nicht?” Für ihren Unterricht habe sie nicht nur einmal mühevoll mehrere Stunden Erklärvideos angefertigt und Aufgaben für jeden Leistungsstand zusammengestellt. “Und dann erfahre ich, dass in Eltern-Chats gezetert wird, dass zu viele Seiten ausgedruckt werden müssten.” Das trifft sie bis heute. “Und dann wird immer überall weiter am öffentlichen Bild gearbeitet, dass wir Lehrer derzeit ja quasi sowieso Urlaub haben und nichts zu tun hätten.”
Natürlich gäbe es solche und solche Lehrer. Aber die Mehrheit sei maximal bemüht, guten Unterricht vorzubereiten und die Kinder derzeit bestmöglich zu fördern. Unter diesen Bedingungen sei das aber alles andere als leicht. “Ich habe mich schon gefragt, warum ich das eigentlich mache? Warum ich mir so viel Mühe gebe und alle Fragen zu beantworten versuche.” Distanz-Unterricht aus Sicht der Lehrer werde kaum abgebildet, sagt sie. Um zu beschreiben, wie sich der derzeit für sie und viele andere anfühlt, benutzt sie ein Wort: “Deprimierend.”
<<< HINTERGRUND >>>
Die Gewerkschaft ist für die Probleme der Lehrer im Distanz-Unterricht bereits sensibilisiert. “Diese Meldungen häufen sich und sie müssen ernst genommen werden”, kommentiert Berthold Paschert, Sprecher der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) die Anfrage dieser Zeitung zu den Attacken auf den digitalen Unterricht. Es handle sich um “eine Torpedierung des Unterrichtsgeschehens, die sanktioniert werden muss”.
Wenn Mitschnitte des Unterrichts im Internet landen, dann “werden Persönlichkeitsrechte von Lehrern und Schülern verletzt”. Ganz neu sei dieser Trend aber bedauerlicherweise nicht, das habe es auch im Präsenzunterricht schon gegeben.
Schulintern müssten solche Vorfälle zum Thema gemacht werden, um Eltern mit einzubeziehen und sie zu sensibilisieren. “Lehrer dürfen in der jetzigen Situation nicht allein gelassen werden. Der digitale Unterricht in seiner derzeit konzentrierten Form ist ohnehin schon eine immense Belastung”, so die GEW.