Hagen. Berufspendler und Einkaufsgäste kommen in die Stadt. Geht das? Und was ist mit der Familienfeier am Wochenende? So handhaben das Betroffene.
Man muss sich dem Risikogebiet vielleicht einmal so nähern: Hagen hat rund 190.000 Einwohner und aktuell gibt es 124 Menschen, die durch Tests bestätigt mit dem Coronavirus infiziert sind. Das sind in etwa 0,07 Prozent der Gesamtbevölkerung. Drei Corona-Patienten liegen derzeit in Hagen auf der Intensivstation und nehmen damit knapp vier Prozent aller Intensivbetten in der Stadt ein.
Und trotzdem ist Hagen seit Donnerstag auch ganz offiziell ein Risikogebiet. Weil es zuletzt so viele Neuinfektionen gab, und weil der Grenzwert überschritten wurde, ab dem die Behörden in der Gefahr sind, dass sie Infektionsketten nicht mehr nachverfolgen, Kontaktpersonen nicht mehr in Quarantäne schicken können. Dass das Virus dann freie Bahn bekommt und all die Mini-Zahlen zu großen anwachsen. Wie geht man jetzt von außen um mit dieser Stadt?
Das Familientreffen
Tobias Huld (39) wohnt mit seiner Familie in Köln, aber Hagen ist Heimat geblieben. Mit seiner Frau und den Zwillingen will er übers Wochenende eigentlich nach Hagen kommen, um die Eltern zu besuchen. Am Donnerstagmorgen aber scrollt er durch die Tagesschau-App und liest: Hagen ist jetzt Risikogebiet. Das wirft zumindest Fragen auf. „Dürfen meine Eltern uns beherbergen“, fragt er. Und: „Dürfte zumindest theoretisch meine Schwester mit ihren Kindern auch kommen? Dann sind wir ja Personen aus drei Haushalten.“ Das stimmt: Aber Kontaktgrenzen gibt es lediglich in der Öffentlichkeit oder bei Feiern außerhalb der eigenen Wohnung. Die Familie hat kurz überlegt, aber die Zweifel dann ad acta gelegt. „Wir werden fahren – und auch nicht mit einem unguten Gefühl. Denn wir treffen ja nicht andere Leute, sondern bleiben im Familienkreis.“
Das Einkaufen
Genaue Zahlen von der Zählmaschine an den Eingängen gibt es erst am Folgetag. Doch Christoph Höptner, Center-Manager des Einkaufszentrums Rathaus-Galerie in der Hagener Innenstadt, hat einen Eindruck am Tag 1, nachdem Hagen den Corona-Grenzwert überschritten hat: „Es ist genauso viel los wie in den Tagen zuvor.“ Die Nachricht vom Risikogebiet scheint die Menschen nicht vom Einkauf abzuhalten. „Uns im Einzelhandel treffen die neuen Auflagen ja auch nicht direkt. Alle halten sich an die vorgeschriebenen Schutzmaßnahmen.“
Auf einem Niveau von 80 bis 90 Prozent der Vorjahres-Besucherzahlen sei man inzwischen wieder an den Samstagen. Auch aus dem Umland seien die Kunden wieder gekommen, wie die Analyse gezeigt hätte: „Wir sehen wieder viele Kfz-Kennzeichen aus dem Märkischen Kreis in der Tiefgarage“, sagt Christoph Höptner. Er hofft, dass das nun auch so bleibt.
Sogar aus Meschede im Hochsauerlandkreis ist eine ältere Dame mit dem Zug angereist. „Tagesausflug“, sagt sie. Dass Hagen Risikogebiet ist, weiß sie selbst dann noch nicht, als sie am Bahnhof auf den Zug zurück wartet. „Ich habe nichts bemerkt, was darauf hingedeutet hätte“, sagt die Dame, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. „Aber wenn ich das heute Morgen schon gewusst hätte, dann wäre ich nicht hergefahren. Das muss ja nicht sein.“
Gegen das Einkaufen spricht eigentlich nichts. Es gibt keinerlei Einschränkungen für das Einkaufen in Städten wie Hagen, Wuppertal, Hamm oder Remscheid , die den Corona-Grenzwert überschritten haben, bestätigt Carsten Duif, Sprecher des NRW-Gesundheitsministeriums. Und auch ausdrücklich keine Empfehlung des Ministers, solche Städte nun zu meiden.
Die Berufspendler
Das gilt auch für die Berufspendler. Und von denen gibt es viele: Rund 31.000 Menschen kommen zum Arbeiten regelmäßig von außerhalb nach Hagen, 29.000 Hagener fahren täglich raus aus der Stadt. Zumindest in Nicht-Corona-Zeiten war das so. Dass heute mehr auf das Homeoffice gesetzt wird, hat auch den Segen des NRW-Gesundheitsministeriums. „Es gilt auch hier die generelle Empfehlung, wann immer es geht, von Zuhaus zu arbeiten“, sagt Sprecher Carsten Duif. Aber bei diesem Ratschlag bleibt es auch. Darüber hinaus gebe es keine gesetzlichen Beschränkungen für Berufspendler: „Hier können Arbeitnehmer und Arbeitgeber viel besser die individuelle Lage regeln.“
Und das tun sie auch: vor allem durch Gelassenheit. Die junge Dame entsteigt soeben dem Zug, der sie aus Gevelsberg nach Hagen gebracht hat. Sie hat die Nachmittagsschicht in einer Zahnarztpraxis. „Hagen ist Risikogebiet“, fragt sie ungläubig. Sie wusste das nicht, aber es interessiert sie auch nicht wahnsinnig. „Klar, man hat Corona immer im Hinterkopf. Aber es kann einem ja immer und überall jemand begegnen, der es hat.“ Punkt. Aus. Sie eilt der Arbeit entgegen.
Eine andere junge Frau aus Finnentrop macht den theoretischen Teil der Ausbildung in Hagen. Es sei ein „komisches Gefühl“, dass Hagen nun so viele Infizierte hätte. „Sorgen mache ich mir aber nicht“, sagt sie schulterzuckend und steigt in den Sauerland-Express Richtung Heimat.
André Sigmar kommt am Mittag mit dem Zug aus Meschede. Auch er arbeitet in Hagen, bei der Bundespolizei. Weiß er, dass Hagen Risikogebiet ist? Er nickt. Mit welchem Gefühl kommt er jetzt zur Arbeit? „Mit keinem anderen als sonst auch“, sagt er: „Ob die Zahlen nun etwas unter oder etwas über 50 liegen, macht doch keinen großen Unterschied.“
Die Arbeitgeber
Verunsicherung? Nein, davon sei nichts zu spüren in der Belegschaft beim Kaltwalzunternehmen CD-Wälholz, einem großen Arbeitgeber im Hagener Lennetal, sagt Ute Neuhaus, die Marketingleiterin: „Und wir haben viele Mitarbeiter, die nicht aus Hagen kommen.“ In den Büros sei die Maskenpflicht noch einmal verschärft worden. Jeder, der den Schreibtisch verlasse, müsse sie sofort anziehen. Ansonsten arbeit man unter den ohnehin existierenden Corona-Schutzbedingungen, die Erklärung zum Risikogebiet hatte da keine weiteren Folgen.
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Bei der Arbeitsagentur ist das schon anders. „Derzeit sind Dienstgänge innerhalb von Hagen bei uns nicht zulässig“, sagt Ulrich Brauer, der Sprecher der Behörde. Diese Regel gilt, seitdem der Kreis den Sieben-Tages-Inzidenzwert von 35 überschritten hat. Die Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit dürfen auch keine Dienstreisen nach und von Hagen aus mehr unternehmen. Eine extra Regelung für Pendler, die aus Nicht-Risikogebieten stammen und bei der Bundesagentur in Hagen arbeiten, gibt es allerdings nicht. Ulrich Brauer betont: „Ich komme selbst aus dem Ennepe-Ruhr-Kreis , wo die Corona-Zahlen noch nicht so hoch sind, und fühle mich nicht unsicher, wenn ich ins Büro komme.“ Allerdings wird den Mitarbeitern der Bundesagentur für Arbeit in Hagen empfohlen, mit dem Auto und nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit zu kommen. „Auch die Möglichkeit auf Homeoffice wird eingeräumt, soweit das machbar ist“, so Brauer.
Auch die SMS group mit Zentrale in Hilchenbach hält ihre Mitarbeiter in Corona-Zeiten dazu an, auf nicht zwingend notwendige Dienstreisen im In- und Ausland zu verzichten. „Dies gilt auch für Reisen zwischen unseren Standorten“, erklärt Unternehmenssprecher Martin Aufschläger. „Reisen in deutsche Regionen, in denen die Zahl der Neuinfizierten innerhalb von sieben Tagen je 100.000 Einwohner größer als 50 ist, sind zwar weiterhin möglich, sofern zwingend erforderlich.“ Nach Möglichkeit sollten aber auch hier die digitalen Wege genutzt werden.
Zurückhaltend beim Thema Dienstreisen ist auch die Firma EJOT aus Bad Berleburg: Berufliche Reisen in Corona-Risikogebiete im internationalen Raum finden nicht statt. Eine Regelung für Hotspots in Deutschland gibt es bisher dort nicht. Unternehmenssprecher Andreas Wolf sagt: „Eine neue Regelung dafür wird vermutlich ähnlich aussehen wie unsere internationale Richtlinie“, so Pressesprecher Andreas Wolf. Dass es auch Corona-Risikogebiete innerhalb Deutschlands gebe, sei eine so aktuelle Entwicklung, dass EJOT noch keine Bestimmung dafür festgelegt hätte. „Wir werden aber auch bei Dienstreisen in Risikogebiete in Deutschland vorsichtig vorgehen“, sagt Andreas Wolf.
Doch wie sieht es im Logistikgeschäft aus? Hans Georg Schmitz von der Spedition Robert Schmitz, Logistikpartner der Schmiede-Kaltwalzenindustrie, sagt: „Ich glaube nicht, dass Kunden in anderen Städten Lieferungen durch unsere Fahrzeugflotte ablehnen werden, nachdem Hagen zum Corona-Hotspot geworden ist. Mit Beginn der Pandemie haben wir hohe Sicherheitsvorkehrungen getroffen – es gibt so gut wie keinen Kontakt zwischen unseren Fahrern und Mitarbeitern von Kunden.“
Das Labor
Das medizinische Labor Wahl in Lüdenscheid hat seit einigen Wochen auch eine Dependance in Hagen. „Ich habe heute Morgen ganz früh Radio-Nachrichten gehört und da kam ein Politiker zu Wort, der sagte, dass man weitere Test-Kapazitäten schaffen werde“, berichtet die stellvertretende Laborleiterin Dr. Britta Amodeo. „Da ist mir fast die Zahnbürste aus der Hand gefallen.“ Warum? „Ich habe mich gefragt: Wie wollen die das machen?“
Bei etwa 90 Prozent läge die Auslastung im Moment. Dadurch, dass die kostenfreien Testungen für Lehrer und Erzieher ab der kommenden Woche wegfallen, würden zwar Kapazitäten wieder frei: „Aber wir arbeiten hier weiter im Schichtdienst, oft bis Mitternacht und ab sieben Uhr morgens wieder. Meine Meinung wäre, dass die Kapazitäten für jene vorgehalten werden, die auch wirklich krank sind.“ Und nicht für jene, die im Urlaub im Risikogebiet waren oder noch in den Urlaub wollen – mit Startpunkt in einem Risikogebiet.