Hagen/Warstein. Er ist der Professor, der den Corona-Ausbruch bei Tönnies untersucht hat. Über die Detektiv-Arbeit von Martin Exner und seinen dringenden Appell.

Er war mit seinen Mitarbeitern entscheidend daran beteiligt, dass der größte Legionellen-Ausbruch, der bislang in Deutschland dokumentiert wurde, zügig bekämpft werden konnte. Damit es in Warstein im Jahr 2013 nicht noch mehr Opfer gab als die drei Toten und die vielen schwer Erkrankten. Nun hat Professor Martin Exner, der Leiter des Instituts für Hygiene und Öffentliche Gesundheit der Universität Bonn, die Ursache erforscht, warum sich das Coronavirus so schnell bei dem Schlachtunternehmen Tönnies in Rheda-Wiedenbrück mit Hunderten Infizierten ausbreiten konnte.

Lag die Ursache für den Coronavirus-Ausbruch in Rheda-Wiedenbrück für Sie gleich auf der Hand? Hatten Sie schon gleich beim ersten Blick auf die Anlagen eine Ahnung, woran es liegen könnte?

Professor Martin Exner Nein, jeder Ausbruch ist nach Robert Koch wie ein großes Experiment – das gilt für den SARS-CoV-2-Ausbruch in Rheda-Wiedenbrück genauso wie für den Legionellenausbruch in Warstein. Wir als Hygieniker fragen uns: Wo ist das Reservoir, wie ist die Freisetzung des Erregers und wie der Übertragungsweg für die weitere Ausbreitung? Dafür muss man den Blick öffnen und auf alle Möglichkeiten richten, man darf sich nicht auf einen Punkt versteifen. Und man muss das Prinzip von Robert Koch beherzigen: Man muss vor Ort gehen und untersuchen, man muss Besonderheiten und die Umstände mit im Blick haben. Es gibt Zusammenhänge, die können sie nicht allein im Labor herausfinden.

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Bei Tönnies haben Sie schnell herausgefunden, dass die Umluftanlagen entscheidend zur Ausbreitung des Coronavirus beigetragen haben dürften. Wie sind Sie darauf gekommen?

Wir hatten die Vorerfahrungen durch den COVID-2-Ausbruch in Heinsberg. Bei der dortigen Kappensitzung, die als Ursprung für einen der größten Ausbrüche in Deutschland gilt, mussten die Fenster in dem dortigen Bürgersaal aus Lärmschutzgründen geschlossen bleiben, es gab eine Belüftung, die zu 70 bis 75 Prozent mit Umluft fuhr und die Menschen waren sehr dicht zusammen. Dies fiel als einer der Risikofaktoren auf. Diese Erfahrungen konnten wir durchaus auf den Ausbruch in Rheda-Wiedenbrück übertragen. Dabei muss man auch die epidemiologischen Besonderheiten im Blick haben: Die Schlachtung mit sehr niedrigen Infektionsraten zum Beispiel erfolgt zu 100 Prozent mit Frischluft, anders sieht es im Zerlegebetrieb aus, wo auf Umluft zur Kühlung gesetztwerden musste und wo im Akkord hart körperlich gearbeitet wurde.

Sie haben insbesondere auch auf die Wohnbedingungen für die oft aus Osteuropa stammenden Arbeiter von Subunternehmen als mögliche Gefahrenquelle hingewiesen. Wissenschaftler vom Helmholtz-Institut sind nun zur Erkenntnis gekommen: Es gab einen „Superspreader“, einen Mitarbeiter, der das Virus aus einem anderen Betrieb hineingetragen hat, wo es dann bei Tönnies über die Lüftung verbreitet wurde. Ist das ein Streit unter Wissenschaftlern?

Nein, das ist kein Widerspruch. Die Erkenntnisse der von mir sehr geschätzten Kollegen bedeuten ja nicht, dass man für Präventionskonzepte nicht auch die Lebensbedingungen einbeziehen muss. Wir müssen auf ein Multibarrierenkonzept setzen, das heißt viele sich gegenseitig ergänzende Barrieren sicherstellen, damit sich das Virus nicht ausbreitet. Und die Wohnverhältnisse gehören – ähnlich wie Transportbedingungen – ebenso zu diesem Präventionskonzept.

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Welche Schlussfolgerungen können aus dem Ausbruch bei Tönnies gezogen werden: Sehen Sie andere Unternehmen oder Bereiche im öffentlichen Leben, wo es ähnliche Gefahren gibt?

Wir können nicht ausschließen, dass es dort zu einer erhöhten Gefährdung kommen kann, wo im größeren Maße mit Umluftanlagen gearbeitet wird. Das gilt zum Beispiel auch für Diskotheken, Kongresshallen, Vorlesungssäle oder Restaurant-Betriebe. Sei es um die Luft zu kühlen oder um die Luft zu erwärmen. Wir beginnen jetzt auch in anderen Örtlichkeiten, diese Risiken zu untersuchen, um geeignete Lösungen zu finden. Das Tragen von Mund-Nasenschutz gehört in jedem Fall dazu.

Was war eigentlich schwieriger: die Legionellenquelle in Warstein zu finden oder die Coronavirus-Ausbreitung bei Tönnies zu untersuchen?

Warstein, das war schon eine extreme Belastung. Zum einen für die Bevölkerung, die erhebliche Einschränkungen bei hoher Unsicherheit in Kauf nehmen musste. Zum anderen war es auch eine große Herausforderung für uns Ärzte und Hygieniker. Da lagen Menschen schwer krank im Krankenhaus, es gab Todesfälle und es musste mit neuen Todesfällen gerechnet werden. Da war es entscheidend, aber auch belastend, schnell die Quelle finden zu müssen, um die Ausbreitung zu stoppen und weitere Erkrankungen und Todesfälle zu verhüten.

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Mit Erfolg?

Ja, es ist uns gelungen, den Legionellen-Ausbruch nachhaltig unter Kontrolle zu bringen und die Menschen vor dieser Infektion zu schützen. Es gab meines Wissens nach keine neuen Infektionen mit diesem Epidemiestamm und Warstein ist sicher. Das ist immer das Ziel unserer Arbeit: neue Erkenntnisse zu gewinnen, aus denen wir für andere Fälle lernen können, um eine Ausbreitung nicht nur kurzfristig sondern nachhaltig zu stoppen, um so rasch wie möglich zu normalem Leben zurückkehren zu können. Ich hoffe, dies gelingt auch bei dem Coronavirus. Im Fall Warstein haben wir aufdecken können, dass das Abwasser eine bislang von der Wissenschaft übersehene Quelle bei der Ausbreitung von Legionellen sein kann. Diese Erkenntnis hat uns geholfen, in der Folge auch an anderen Orten die Ausbreitung schnell einzudämmen.

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Nach ihrer Tätigkeit in Warstein hat ein anderer Gutachter angemerkt, dass Sie mehr als die Rolle eines Beraters in dem Prozess eingenommen hätten. Erinnert Sie das ein bisschen an die Vorwürfe, die gegen Virologen wie Christian Drosten erhoben werden, dass sie zu viel Macht hätten?

Mich hat die Aussage damals extrem getroffen. Wir sind, als wir vom Gesundheitsamt in Soest um Unterstützung gebeten worden waren, von einem Tag auf den andern nach Warstein gefahren und haben mit Hochdruck in Kooperation mit den Behörden – mit Landrätin Irrgang, Kreisdirektor Lönnecke, Dr. Renken und dem damaligen, sich so für seine Stadt einsetzenden Bürgermeister Gödde – nach der Quelle gesucht, weil wir wussten, dass es schnell gehen muss. Wir haben eine nachhaltige Eindämmung erreicht. Solch eine Aussage zu hören von einem Gutachter, der gar nicht mit uns gesprochen hatte, war bitter.

Zurück zum Ausbruch in Rheda- Wiedenbrück und Belüftungsanlagen: Welche Gefahr geht auch von privaten Klimaanlagen und Belüftungssystemen aus?

Es kommt sicherlich darauf an, wieviel Personen von diesen Lüftungsanlagen betroffen sind. Aber was wir sicherlich sagen können: eine Lüftung mit 100 Prozent Frischluft mindert das Risiko auf jeden Fall.

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Die Infektionszahlen steigen bundesweit wieder. Sie sind Arzt und Hygieniker. Was raten Sie der Bevölkerung?

Die massiven Einschränkungen zu Beginn der Pandemie hatten natürlich erhebliche Konsequenzen für die Menschen und auch für die Wirtschaft. Das muss man im Blick haben, auch die wirtschaftlichen Folgen für unsere Gesellschaft, denn auch Armut kann nachhaltige Konsequenzen haben. Aber die anfänglichen Einschnitte waren richtig. Es ist noch unsicher, ob und wann wir einen Impfstoff gegen das Coronavirus haben werden. Aber die so genannten AHA-Regeln, also Abstand halten, Hygienemaßnahmen und Alltagsmasken tragen, scheinen einen ähnlichen präventiven Effekt zu haben wie ein Impfschutz. Da ist es so wichtig, dass diese Regeln eingehalten werden. Die Haltung, dass Virus sei doch nicht so schlimm, ist falsch. Ich habe selbst vier Kinder, ich weiß, wie groß das Bedürfnis der jungen Menschen ist, auch mal wieder tanzen zu gehen. Aber ich appelliere insbesondere auch an die jungen Menschen: seid vernünftig, haltet euch an die Regeln. Macht mit. Dann können wir auch erfolgreich lernen mit dem Virus leben zu können.

>> Info: Der Legionellen-Ausbruch in Warstein

  • Das Auftreten schwerer Lungenentzündungen war im August 2013 das Zeichen für den Legionellen-Ausbruch in Warstein. Zwei Männer und eine Frau starben. Es gab 165 weitere Erkrankungs- und Verdachtsfälle.
  • Die Ausbreitung ist auf die Verdunstungskühlanlage einer Firma zurückzuführen. Die hatte Kühlwasser aus einem Bach entnommen, das in der Kläranlage aufbereitet worden war. Das Abwasser gilt als Quelle.