Brilon. Die Zukunft des Schützenwesens war Thema eines wissenschaftlichen Forschungsprojekts. Die Ergebnisse der Studie liegen jetzt vor.

Wie stellen sich Schützenvereine für die Zukunft auf? Die Universität Paderborn hat in Kooperation mit der Warsteiner Brauerei Antworten in dem Forschungsprojekt „Tradition im Wandel“ gesucht. Jetzt stehen die Ergebnisse fest. Peter Karl Becker aus Brilon ist Lehrbeauftragter an der Universität Paderborn.

In Ihrem Forschungsprojekt geht es um die Zukunft. Aber holt nicht gerade die Gegenwart die Zukunft ein? Wirbelt die Corona-Pandemie das Schützenwesen komplett durcheinander?

Peter Karl Becker: Das ist in der Tat so. Die Gemeinschaft ist ein zentraler Aspekt. Doch Gemeinschaft kann derzeit in der üblichen Form nicht stattfinden. Das ist eine große Herausforderung. Wenn das Schützenfest ausfällt, müssen Vereine neue Formate finden, um ihre Mitglieder bei der Stange zu halten – und um neue zu gewinnen.

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Sie haben den Mitgliederschwund als eines von drei Haupt-Risiken für die Zukunft ausgemacht. Wie drängend ist das Problem?

Es ist kein dramatischer Rückgang, eher ein schleichender Prozess: Pro Jahr gehen die Mitgliederzahlen im Schnitt um 3 bis 5 Prozent zurück. Aber: Wir haben insgesamt eine Überalterung, es rücken nicht genug Jüngere nach.

Wie können die Vereine dem begegnen?

 Peter Karl Becker hat das Forschungsprojekt „Tradition im Wandel“ an der Universität Paderborn initiiert. Peter Becker Foto: privat
 Peter Karl Becker hat das Forschungsprojekt „Tradition im Wandel“ an der Universität Paderborn initiiert. Peter Becker Foto: privat © privat

Sie müssen ihren Grundsatz „Glaube, Sitte, Heimat“ überdenken. Die Werte in der Gesellschaft haben sich verschoben. Wie unsere Online-Umfrage mit mehr als 5000 Teilnehmern ergab, ist der „Glaube“ mittlerweile mit Abstand das schwächste Bindeglied. Es geht nicht darum, das Kirchliche zu verbannen. Denn es ist Teil des Schützenwesens und ein Stück weit gehört es ja auch dazu. Aber die Vereine müssen den bürgerschaftlichen Aspekt – das freiwillige und das Gemeinwohl fördernde Engagement – wieder in den Vordergrund stellen, um breitere Schichten zu gewinnen. Nicht umsonst ist die Außenwahrnehmung des tatsächlich vorhandenen sozialen Engagements von Schützenvereinen eher gering. Das tragende Moment, so ein zentrales Ergebnis, ist die Heimat. Man kommt zum Schützenfest zurück nach Hause, um Gemeinschaft zu erleben.

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Müssen diejenigen mehr eingebunden werden, die nicht mehr am Vereinssitz wohnen?

Unbedingt. Es muss möglich sein, sich auch aus der Ferne einzubringen. Sonst lässt man Potenzial gerade bei jungen Leuten liegen. Durch die Digitalisierung ist ein solches Engagement möglich – es wurde nur bisher zu wenig genutzt.

Sie warnen davor, dass das Schützenwesen durch einen falsch verstandenen Wandel beliebig wird. Worauf beziehen Sie Ihre Sorge?

Die Einstufung als „Immaterielles Kulturerbe“ sollte ausschließen, dass jedes Ritual, jeder Brauch und jede Tradition über Bord geworfen wird. Es gibt Eckpunkte wie das Schützenfest, an denen nicht gerüttelt werden sollte. Es wäre auch falsch, nichts mehr mit der Kirche zu tun haben zu wollen, weil dies möglicherweise dem Zeitgeist entspricht. Beliebig wird man, wenn man aus ökonomischem Kalkül sich Dingen zuwendet, die nichts mit dem Schützenwesen zu tun haben. Warum muss man sich dem Hype um Oktoberfeste anschließen?

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Ein weiteres Risiko für die Zukunft ist das zunehmende Problem, Vorstandsposten zu besetzen. Woran liegt das?

Die behördlichen Auflagen sind von Jahr zu Jahr gestiegen. Daher werden immer mehr Fachleute in Vorständen benötigt, die sich beispielsweise in juristischer, architektonischer oder steuerrechtlicher Hinsicht auskennen. Nicht zu vergessen, dass sich die Angriffspunkte vergrößern, um Vereine in Regress zu nehmen. Letztlich haftet der geschäftsführende Vorstand. Diese Verantwortung hält so manchen davon ab, eine Funktion zu übernehmen.

Steigen womöglich durch Corona die ökonomischen Risiken stärker, als in Ihrer Studie prognostiziert?

Davon ist auszugehen. Allein aus Mitgliedsbeiträgen kann sich kein Verein finanzieren. Es bedarf Einnahmen aus Schützenfesten und sonstigen Veranstaltungen und Hallen-Vermietungen. Das bricht derzeit alles weg. Die Probleme strahlen im übrigen auf Wirtschaftsbranchen aus, die eng mit den Vereinen verbunden sind. Nehmen sie die Brauereien. Insbesondere die kleineren gehen durch den nahezu zum Erliegen gekommenen Fassbierverkauf schweren Zeiten entgegen. Und im hohen Maße auch die Schausteller.

Schützenvereine leben von der Tradition. Sind die Vorstände überhaupt willens, einen Wandel einzuleiten?

Eindeutig ja. Wir spüren ein starkes Interesse in den Vereinen, sich mit Fragen zu beschäftigen, wie man sich in die Zukunft bewegt oder wie man mit Diversität umgeht. Da sind sie übrigens den Verbänden oft einen Schritt voraus.

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Haben sich in der Corona-Krise für die Vereine doch ungeahnte Chancen aufgetan?

Wie man sieht, ja. Viele Vereine waren sehr kreativ und haben Aktivitäten ins Internet verlagert. Sie haben bewiesen, dass Gemeinschaft in einer neuen Form möglich ist und das Vereinsleben nicht zum Erliegen kommen muss. Das lässt für die Zukunft hoffen.

Hintergrund

  • Die Publikation „Das Schützenwesen in Westfalen als Immaterielles Kulturerbe“ (Verlag für Regionalgeschichte) mit den Ergebnissen der Studie ist im Buchhandel erhältlich (ISBN 978-3-7395-1239-6).
  • Das Forschungsprojekt „Tradition im Wandel“ ist bis Ende 2023 verlängert worden. Im Herbst finden kostenlose Workshops zur Vereinsentwicklung statt. Für den 7. November 2020 ist die 3. Warsteiner Schützenkonferenz terminiert.
  • Weitere Informationen: https://kw.uni-paderborn.de/historisches-institut/kulturerbe/kompetenzzentrum/tradition-im-wandel/