Bad Berleburg/Lünen. Hat der Lokführer den Gullydeckel-Angriff auf einen Zug bei Bad Berleburg selbst inszeniert? Ab Freitag muss er sich vor Gericht verantworten.

Wer ist für den mysteriösen Gullydeckel-Anschlag auf einen Zug bei Bad Berleburg-Raumland am 13. April 2019 verantwortlich? Es ist der Lokführer, sagt die Staatsanwaltschaft Siegen. „Mein Mandant dementiert vehement, dass er den Vorfall selbst inszeniert hat“, sagt Dennis Tungel, Verteidiger des 50 Jahre alten Lokführers aus Lünen im Kreis Unna. Im Vorfeld des Prozesses am Bad Berleburger Gericht hatte sich der Rechtsanwalt des Angeklagten gegenüber dieser Redaktion erstmals öffentlich in der Sache geäußert. Der Prozess beginnt am Freitag.

Der mysteriöse Fall hatte seinerzeit bundesweit für Aufsehen gesorgt. Die beiden gusseisernen, jeweils 35 Kilogramm schweren Gullydeckel hingen an bunten Seilen von der Brücke „Am Steinchen“ herunter. Mit Wucht schlugen sie am frühen Morgen in die Frontscheibe der Rothaarbahn (RB93) ein.

Regionalzug ohne Fahrgäste unterwegs


Der Regionalzug war auf einer Leerfahrt ohne Fahrgäste zwischen Erndtebrück und Bad Berleburg unterwegs. Der Lokführer blieb unverletzt. Er hatte eine Notbremsung des 52 km/h schnellen Zuges eingeleitet und sich im Führerstand der Hessischen Landesbahn (HLB) noch rechtzeitig nach hinten wegducken können – sodass ihn keine der beiden Schachtabdeckungen traf.

Nach dem Anschlag fanden die Ermittler im Gleisbett diesen Gully- deckel­.
Nach dem Anschlag fanden die Ermittler im Gleisbett diesen Gully- deckel­. © WP | Lars-Peter Dickel


Der Familienvater wurde anfangs für seine schnelle Reaktion gefeiert. Nach einer spektakulären Wendung hat ihn die Staatsanwaltschaft Siegen dann aber wegen gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr und Vortäuschen einer Straftat angeklagt.

Mordkommission nahm Ermittlungen auf

Unmittelbar nach dem Vorfall war eine Mordkommission der Polizei eingerichtet worden, die den oder die mutmaßlichen Täter unter dem Vorwurf des versuchten Mordes zur Strecke bringen sollte. Zwölf Tage nach dem Anschlag stand plötzlich der Lokführer selbst unter Tatverdacht.

Ein Motiv für das mutmaßliche Verhalten des Lokführes haben die Ermittler bis heute nicht gefunden. Der Siegener Staatsanwalt Rainer Hoppmann wird auch gegenüber dieser Zeitung nicht müde zu betonen, dass in diesem Fall selbst Spekulationen schwer fallen.

Gelernter Schlosser zum Lokführer umgeschult

„Es gibt kein Motiv“, hatte Anwalt Dennis Tungel im Vorfeld erklärt. „Mein Mandant ist sehr bodenständig. In seinem Leben finden sich keine Auffälligkeiten, die auch nur im Ansatz die Vorwürfe in der Anklageschrift erklären könnten. Da ist nichts Ersichtliches.“

Zumal der gelernte Schlosser, so der Jurist aus Lünen weiter, nach einer Umschulung zum Lokführer seinen „Traumberuf“ gefunden habe: „Er geht darin auf, war extrem glücklich. Warum sollte er das mit einer solchen Aktion aufs Spiel setzen?“

Zweitwohnung in Erndtebrück

Der Lokführer war über ein Personalüberlassungs-Unternehmen für die Hessische Landesbahn (HLB) im Einsatz, bestätigt sein Anwalt. „Im Rahmen des Arbeitsverhältnisses“ habe sein Mandant eine Wohnung in Erndtebrück bezogen, gut 130 Kilometer von seiner Heimat Lünen entfernt.


„Nach seiner Aussage hat es keine Beanstandungen an seiner Arbeit gegeben“, sagt Tungel. Das kann auch HLB-Sprecherin Sabrina Walter unterstreichen: „Der Mann fuhr etwa zwei Jahre auf der Strecke. Es gab keine Auffälligkeiten. Der Vorfall kam für uns aus heiterem Himmel.“

DNA-Spuren des Angeklagten sicher gestellt


Die Anklage stützt sich auf Indizien. Nach Angaben von Sebastian Merk, Sprecher des Landgerichts Siegen, waren der Staatsanwaltschaft zufolge am Tatort und bei Durchsuchungen des Hauptwohnsitzes des Tatverdächtigen in Lünen und dessen Zweitwohnsitzes in Erndtebrück DNA-Spuren sowie unter anderem Schneidwerkzeuge, Handschuhe und eine Seilaufhängung mit einer ähnlichen Knotenführung wie bei den Kordeln am Geländer der Bahnbrücke sichergestellt worden.

Die Auswertungen im Landeskriminalamt Düsseldorf hätten „DNA-Anhaftungen des Angeklagten an der Seilkonstruktion“ ergeben. Vier Gullydeckel sollen vor der Tat in Hilchenbach gestohlen worden sein. „Die Anklageschrift enthält keine Angaben zu einem möglichen Motiv und zu einer möglichen verminderten Schuldfähigkeit des Lokführers“, so Gerichtssprecher Merk.

Lokführer ist krank geschrieben

Der spektakuläre Kriminalfall in Wittgenstein bleibt auch für Bahn-Experten mysteriös. „Dass ein Lokführer einen Angriff mit Gullydeckeln selbst inszeniert haben soll, davon habe ich noch nie gehört“, sagt der Sprecher des Fahrgastverbandes Pro Bahn in NRW, den man guten Gewissens als wandelndes Bahn-Lexikon bezeichnen kann. „Das ist eine ganz skurrile Geschichte“, so Ebbers weiter.

Der angeklagte Lokführer war freigestellt worden, nachdem er ins Visier der Ermittler geraten war. „Die Anklage der Staatsanwaltschaft belastet meinen Mandanten beruflich wie privat schwer“, so sein Anwalt Dennis Tungel. Es sei für diesen schwer zu verarbeiten, „dass er erst einen schlimmen Vorfall erlebt hat und ihm dann vorgeworfen wird, dafür selbst verantwortlich zu sein“.

Angeklagter will weiter als Lokführer arbeiten

„Er will, dass die Sache geklärt wird“, so sein Verteidiger. Vom Ausgang der Gerichtsverhandlung hänge auch ab, ob es eine weitere Zusammenarbeit mit seinem bisherigen Arbeitgeber geben könne. Diese Option hätten sich beide Seiten offen gehalten. „Mein Mandant“, so Dennis Tungel, „will auf jeden Fall weiter in dem Beruf tätig bleiben.“

Leih-Lokführer im Bahnverkehr nicht unüblich

Der angeklagte Lokführer wurde über ein Personalüberlassungs-Unternehmen an die Hessische Landesbahn verliehen. „Es gibt einen Markt für Mietlokführer“, so Lothar Ebbers vom Fahrgastverband Pro Bahn, „das ist eine seriöse Sparte im Personen- und Güterverkehr.“


Die Unternehmen seien verpflichtet, „Reserven nachzuweisen, um die Erfüllung der Auftrage zu gewährleisten.“ Bei personellen Engpässen während Krankheitsphasen bediene man sich dann solcher Mietlokführer. Zudem gebe es Lokführer („insbesondere junge“), die nicht fest angestellt sein wollen, Abwechslung bei Strecken und Zügen bevorzugen und von Zulagen profitieren wollen. Ob Miet-Lokführer oder Festangestellter: „Die Anforderungen sind die selben“, sagt Ebbers: Die Ausbildung sei identisch, für jedes Fahrzeug benötige man eine Einweisung, zudem müsse man Streckenkunde nachweisen.

Stefan Mousiol, Sprecher der Gewerkschaft der Lokführer (GdL), zufolge ist mit der Öffnung des Marktes im Jahr 1994 das Modell der Leiharbeit im Lokführerbereich entstanden „Grundsätzlich ist Leiharbeit ein legitimes Mittel für Unternehmen, um zeitlich befristete Auftragsspitzen abzudecken.“ Allerdings: Der Einsatz von Leih-Lokführern beeinflusse die Beschäftigung von Lokführern in Festanstellung negativ.