Dortmund/Finnentrop. Ruth Jacob-Prinz ist als Jüdin im Sauerland aufgewachsen. Sie sagt: Der Antisemitismus war nie weg.
Als sie Neun war, hat eine Mitschülerin Ruth Jacob-Prinz ins Gesicht gespuckt und dazu gesagt: Das habt ihr Juden mit Jesus ja auch getan. Das war nicht 1934, sondern Anfang der 1960er Jahre im Sauerland, in dem Dörfchen Lenhausen, das heute zu Finnentrop gehört.
Dort ist Ruth Jacob-Prinz aufgewachsen. Der Großvater, Metzgermeister Max Meier Jacob, war der erste Lenhauser, der 1914 als Soldat am Ersten Weltkrieg teilnahm und wurde für seine Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz I. und II. Klasse ausgezeichnet. Der Vater Werner Jacob kehrte aus dem Vernichtungslager Auschwitz in seine sauerländische Heimat zurück – als einziger Jude. Das war 1945. Über 70 Jahre später will ein Rechtsradikaler eine Synagoge in Deutschland stürmen und erschießt dabei zwei Passanten. Verändert das Attentat von Halle den Alltag der Juden in Südwestfalen?
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„Der Antisemitismus war nie weg“, beantwortet Ruth Jacob-Prinz die Frage. „Aber heute traut man sich wieder, offen auszusprechen, was man denkt und wie man denkt.“ Damals, in der Grundschule, ist es vor allem ein Lehrer, der die kleine Ruth kontinuierlich mit Aussagen bedrängt wie: Die Juden haben unseren Herrn Christus ans Kreuz genagelt. „Das haben die anderen Kinder dann so übernommen.“
Eine ganz normale Familie
Der Familie Jacob gehört die einzige Metzgerei im Ort, der Großvater ist Offizier im Schützenverein, die Großmutter besucht Kranke und Bedürftige mit guter Fleischsuppe, der Onkel wird 1931 Schützenkönig. Eine ganz normale sauerländische Familie also – nur eben jüdisch. „Die große Mehrheit der Juden in Deutschland kann man nicht als Juden erkennen“, sagt Ruth Jacob-Prinz. „Sie unterscheiden sich in nichts von ihren Nachbarn, außer, dass sie anders beten und andere Feiertage haben. Mich ärgert es, dass bis heute Juden klischeehaft dargestellt werden. In Israel lebt ja auch die Mehrheit der Juden säkular.“
Als Kind im Sauerland weiß Ruth Jacob-Prinz zunächst nicht, warum ihre Familie, obwohl integriert, doch anders ist. Sie weiß auch zunächst nicht, warum Opa und Oma, Tante Grete und Onkel Erich nicht mehr da sind, „weggekommen sind“, wie der Vater sagt, wenn die Rede auf die Deportationen in die KZs kommt. „Der Geschichtslehrer Norbert Otto kam mit seinem Leistungskurs meine Eltern besuchen. Mein Vater hat den Jungen und Mädchen Sachen erzählt, die er uns nie anvertraut hat. Ich war schon eine erwachsene Frau und Mutter von drei Kindern, als ich das hörte. Das war sehr erschütternd.“
Erinnerung tut weh
Ruth Jacob-Prinz ist eine sachliche Frau. Übertreibungen liegen ihr nicht. 28 Jahre lang war sie Geschäftsführerin des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe. Sie kennt die Situation der Juden in Westfalen gut. Manche Dinge müssen erinnert werden, so weh es auch tut. „Meine Oma stand mit dem Köfferchen in der Hand in Lenhausen am Bahnhof und sang das Lied ,Nun ade, du mein lieb Heimatland’. Sie wussten nicht, was ihnen passiert. Aber es war ihnen schon klar, dass sie nicht wiederkommen werden.“
Die Großeltern und Tante Grete werden am 27. April 1942 verhaftet und am nächsten Morgen um 6 Uhr nach Dortmund zur Deportation abtransportiert. Mit anderen sauerländischen Juden werden sie anschließend in das KZ und Arbeitslager Zamose (Samosc) bei Lublin in Polen verbracht. Vater Werner lebt zu der Zeit mit seiner ersten Frau in Meschede, wo er seit 1940 Zwangsarbeit im Gleisbau für die deutsche Reichsbahn leisten musste. Am 26. Februar 1943 wird das Ehepaar mit 3200 Männern, Frauen und Kindern nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Sie sind die letzten Juden aus dem Sauerland. Werner Jacob durchleidet und überlebt bis Kriegsende sieben weitere Konzentrationslager. Am 1. April 1945 gelingt ihm die Flucht.
Lob für Attendorner Initiative
Es haben so wenige Juden den Holocaust überlebt, woher kommt also der neue Judenhass? Diese Frage stellt Ruth Jacob-Prinz vor ein Rätsel. „Die meisten Antisemiten kennen ja noch nicht einmal Juden. Sie sind Antisemiten, ohne je einen Juden gesehen zu haben.“ Sie lobt die vielfältigen Projekte auf politischer Seite zur Erinnerungskultur und zur Verständigung. Und sie würdigt Aktionen wie den Verein „Jüdisch in Attendorn“, „das ist schon beeindruckend, was diese Initiative auf die Beine gestellt hat.“
Die Judenverfolgungen der Nazis haben intakte Nachbarschaften zerrissen. Als 1935 verboten wird, in jüdischen Geschäften einzukaufen, müssen die Großeltern ihre Metzgerei schließen. „Die meisten haben weggeguckt. Es war ja auch gefährlich zu helfen. Aber einige wenige haben doch geholfen.“
Nicht genug Unterstützung für Schulen
„Du Jude“ ist heute an den Schulen wieder zum Schimpfwort geworden, „Das geht aber mehr von muslimischen Zuwanderern aus, die den Hass auf Juden aus ihren Heimatländern mitgebracht haben. Und Rechtsradikale haben wir inzwischen ja auch wieder eine Menge.“ Ruth Jacob-Prinz kritisiert, dass die Schulen nicht genügend Unterstützung finden, um dem wachsenden Antisemitismus zu begegnen. „Die Lehrer sind oft hilflos und wissen gar nicht, wie sie mit den Schülern umgehen sollen, die antisemitische Parolen auf dem Schulhof oder in den sozialen Netzwerken verbreiten.“
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Jüdische Familien sind über Jahrhunderte ein fester Bestandteil des sauerländischen Alltags gewesen, sie haben den Wohlstand der Region mit erwirtschaftet. Ruth Jacob-Prinz: „Ich habe meinen Vater oft gefragt: Warum bist Du nicht, wie deine beiden Schwestern, nach Amerika gegangen? Warum bist Du ins Sauerland zurückgekehrt? Und dann hat er immer gesagt: Es gab auch gute Menschen hier und außerdem bin ich hier Zuhause.“
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