Wandern hat sein angestaubtes Image abgelegt. Gerade die jüngere Generation packt eine Sehnsucht nach Natur. Autor Christian Sauer erklärt warum.
Iserlohn. Irgendwo ganz weit weg ist die Sonne, die manche ihrer Strahlen durch das Dickicht hindurch in den Wald wirft. Die Blätter am Wegesrand leuchten wie hunderte kleiner grüner, gelber, orangefarbener Lampions. „Gehen war der Anfang von Vielem“, sagt Christian Sauer (56), „mit dem aufrechten Gang konnten wir besser sehen, besser jagen, uns somit besser ernähren.“
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Jagen? Jetzt? Nein. Darum geht es hier im Wald unterhalb des Danzturmes in Iserlohn nicht. Sondern ums Gehen, ums Wandern. Um das, was es gerade jungen Menschen bedeutet. „Es gibt so etwas, wie das neue Wandern. Es ist das, was ich das Wandern 2.0 nenne.“
Mit einer anderen Haltung in den Wald
Der gebürtige Iserlohner ist Journalist, arbeitet aber mittlerweile als Medien-Coach und Autor. Seit neuestem auch als Buch-Autor zum Thema Wandern. „Draußen gehen: Inspiration und Gelassenheit im Dialog mit der Natur“, heißt das Buch. Entstanden auch deswegen, weil Sauer die Art und Weise nicht gefiel, in der in Teilen der Literatur über das Wandern berichtet wird. Bezwungene Berge, überwundene Schweinehunde. Neue und jüngere Autoren hätten sich vor einigen Jahren gesagt: „Das ist nicht die Haltung, mit der wir in die Natur gehen. Sie ist vorsichtiger, sensibler.“
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Sauer nimmt einen Zweig in die Hand. „Was der wohl in diesem Jahr erlebt hat?“ fragt er, ohne eine Antwort zu erwarten. Er vergräbt seine Hand im weichen Waldboden, auf dem Blätter liegen. „Das ist weit davon entfernt, ein Lagerfeld-Duft zu sein, aber es riecht trotzdem gut.“ Nach Erde. So wie Hosen von Kindern auf Kniehöhe riechen, die auf Wiesen und in Wäldern spielen.
Sich der Natur aussetzen
„Die Digitalisierung schiebt einen Bildschirm zwischen uns und die Natur“, formuliert Sauer. „Ich beobachte ein neues, starkes Bedürfnis gerade bei jüngeren Menschen, mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen.“ Weil ihnen etwas fehlt, weil sie gewohnt sind, geschützt zu sein. Das Zuhause, das Büro, das Auto, selbst der Bildschirm dient als Schutz, als Puffer zwischen Mensch und Realität. „Draußen gibt es kein Schutzschild mehr.“
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Durch das Brennnesselfeld muss man dann durch, durch den Matsch ebenfalls. Regen, Hagel oder Gewitter? Genug zu essen und zu trinken dabei? Welcher ist der richtige Weg? „Ich bin, wenn ich mich der Natur aussetze, auf eine Weise herausgefordert, die ich sonst nicht habe. Ich begebe mich auf gewisse Weise ins Risiko. Das ist ein Mikroabenteuer.“
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Als solches hat es einen Platz im Leben junger Menschen. „Das alte Wandern ist das, das früher hauptsächlich innerhalb der Familie oder in einem Verein erfolgte“, sagt Sauer. Kniebundhosen, kariertes Hemd, zünftige Einkehr. Das Wandern 2.0 sei kein Gruppenerlebnis, sondern ein Naturerlebnis.“ Junge Menschen, die wandern, täten dies allein oder in einer sehr kleinen Gruppe. Sie suchten sich ein besonderes Ziel aus, das sie für die Mühen belohnt.
Sich den Beinen am Wandern anvertrauen
So etwas wie das hier. Ankunft am Danzturm. Ausblick über Iserlohn bis nach Fröndenberg, Hamm, Unna. Die Sonne müht sich durch die Schwaden. Sauer bleibt ausnahmsweise stehen, denn eigentlich sei es wichtig, immer weiter zu gehen, seinen Rhythmus zu finden, sich freizulaufen von den Bedenken, die man hatte, als man losging, weil man noch so viel anderes zu tun hätte. Einfach gehen. Schritt für Schritt für Schritt. Sich den Beinen anvertrauen. Ein Rhythmus der Beruhigung.
Abstieg vom Danzturm. Die Bäume stehen Spalier den steilen Weg hinab. Sauer wohnt in Hamburg, er war berufsbedingt in der Welt unterwegs, wanderte, wo er gerade war: in Indien, Sri Lanka, Brasilien, Costa Rica, Kanada, den USA, am Balkan. „Das Sauerland bietet eine besondere Landschaft“, sagt er: „Ein Höhenzug lehnt sich an den nächsten. Jeder hat eine andere Farbe.“ Wie die Wellen des Meeres scheinen sie heranzuschwappen. Waldwogen nennt er das. Ein Begriff, den er sich nicht selbst ausgedacht hat, den er aber als Beschreibung perfekt findet.
Wandern sei auch eine Metapher für das Leben. „Wer weiß schon, was hinter der nächsten Wegkrümmung kommt?“, fragt er und will auch darauf keine Antwort. Niemand kennt sie schließlich. Das ist wie im Leben. Die Zukunft ist die Zukunft. Sie kann wunderbar aussehen, sich aber als Gegenteil entpuppen. Von jetzt auf gleich. „Lebensfähigkeit erweist sich in der Reaktion auf Unvorhergesehenes“, sagt Sauer. „Wenn etwas passiert, muss man schnell die Balance finden. Das ist Gehen.“
Neuen Halt, neue Balance finden
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Vom Plan abweichen zu müssen, Widrigkeiten begegnen zu müssen – Leben eben. „Ich glaube, dass das die bessere Lebenseinstellung ist, als sich an irgendetwas festzuklammern. Weitergehen, den Halt neu suchen.“ Er hat viel darüber nachgedacht, was ihm das Wandern gibt. Und er weiß, dass nicht jeder kleine Spaziergang zum Sinnbild für das Leben taugt. Aber so banal, wie es scheint, ist das Gehen in der Natur für ihn nicht. Es sei eine Sehnsucht, die tief in vielen von uns sitze.
„Das Wandern hat uns verbunden“, sagt Christian Sauer über seinen Vater, der 2016 verstarb. Es war die Zeit, in der er anfing, darüber nachzudenken, was mit ihm beim Wandern passiert. Er machte sich Notizen, schrieb sie nieder. Das Ergebnis ist das Buch. „Vielleicht“, sagt er, „steckt auch Trauerarbeit darin.“ Um eine neue Balance zu finden.