Sundern. Vor 60 Jahren wurde Heinrich Lübke Bundespräsident. In Erinnerung geblieben sind missglückte Reden – außer in seinem Heimatort Enkhausen.
Ein Sauerländer an der Spitze des Staates: Auf den Tag genau vor 60 Jahren, am 1. Juli 1959, wird in der Berliner Ostpreußenhalle der CDU-Politiker Heinrich Lübke aus Enkhausen im damaligen Kreis Arnsberg zum zweiten Bundespräsidenten der noch jungen Bundesrepublik Deutschland gewählt. Fünf Jahre später erfolgt seine Wiederwahl und eine zweite Amtszeit. In Enkhausen, der nicht viel größer gewordenen Ortschaft, die heute zur Stadt Sundern gehört und unweit des Sorpesees liegt, erinnert seit 1975 ein kleines Museum, eingerichtet in einer ehemaligen Schule, an den bekannten Sohn des Ortes.
Wie präsent aber ist Heinrich Lübke noch? – Eine Spurensuche.
Stammplatz in der Kirche von Enkhausen
Die Sonne meint es gut über dem Sauerland. Blauer Himmel, wenige weiße Wölkchen. Kaum ein Windhauch. Die Straßen in Enkhausen: wie ausgestorben. Einzig ein Zusteller eilt mit einem gelben Postauto von Haus zu Haus. Was verbindet er mit dem Namen Heinrich Lübke? „Bundespräsident!“ kommt es wie aus der Pistole geschossen. Und dann überhöht der Postbote den Politiker aus dem Dorf sogar: „Er war der erste Bundespräsident von 1949 bis 1959!“ Damit verdrängt er versehentlich den Württemberger Theodor Heuss (FDP) aus der Präsidenten-Reihe.
In der St.-Laurentius-Kirche ist es an diesem Sommertag angenehm kühl. Die Augen brauchen einen Moment, um sich nach dem hellen Sonnenschein auf das diffuse Licht, das durch die Kirchenfenster fällt, umzustellen. Das Gotteshaus ist für ein kleines Dorf ziemlich groß. Pfarrer Otto Dalkmann und Ortsvorsteher Gerhard Hafner deuten auf eine Bank in der Mitte des Kirchenschiffs. „Dort war der Platz der Familie Lübke.“ Für Politik-Prominenz ziemlich weit hinten. Und unscheinbar. Erst bei genauerem Hinsehen wird deutlich: Es ist eine Reihe, bei der die hölzernen Kniebänke gepolstert sind. Was aber nicht auf den Bundespräsidenten, sondern auf einen örtlichen Landadel zurückgeht, der dort ebenfalls Platz nahm, weiß Ortsvorsteher Hafner zu berichten.
Kripo wacht in der Küche
Gegenüber der Kirche, in der Heinrich-Lübke-Straße, bildet der Gasthof Brinkschulte mit dem Gotteshaus erkennbar die Ortsmitte. Erbaut Anno 1789 steht auf einem Balken des monochromen Fachwerkbaus. „Die Kripo hat dem Personal in der Küche beim Schnittchenschmieren für die Lübkes über die Schulter geschaut“, berichtet Margit Hoffmann, die heute den Gasthof und die Pension betreibt, aus Erzählungen ihrer Tante Magda Brinkschulte, die in den 1950- und 1960er-Jahren den Betrieb führt. Und von Skatrunden mit dem Staatsoberhaupt, die im Wohnzimmer stattfinden. Nicht, um den prominenten Politiker von den Gästen im Schankraum zu separieren, sondern „weil man sich kannte und privat zusammen saß“.
Schnell hat Margit Hoffmann zwei Fotoalben, vorwiegend mit Schwarz-Weiß-Bildern, zur Hand, die zahlreiche Besuche Heinrich Lübkes in seinem Heimatort belegen. Übrigens: Selbst wer im Gasthof auf die Männertoilette geht, kommt an Heinrich Lübke nicht vorbei. Oberhalb des Pissoirs, genau in Augenhöhe, erinnern Bilder und Schriftstücke, collagenartig auf derber Holzvertäfelung angeordnet, an den berühmten Sohn des Ortes.
Franz Müntefering würdigt den CDU-Politiker
Als „angesehenen Politiker“ bezeichnet Franz Müntefering, ehemaliger SPD-Bundesvorsitzender und Vize-Kanzler, Heinrich Lübke. Müntefering ist im Nachbarort geboren und hat 52 Jahre in Sundern gelebt. „Ein solider Konservativer, der soziale Positionen vertrat“, sagt SPD-Urgestein Müntefering über den CDU-Politiker – und fügt an: „Er war keine lächerliche Figur, aber er ist am Ende lächerlich gemacht worden.“
Der breiten Öffentlichkeit ist der Sauerländer Lübke wohl immer noch wegen seiner verbalen Fehltritte und unglücklichen Vergleiche bekannt. „Es fehlt ihnen an Menschen“, sagt Lübke nach einem Staatsbesuch in Kanada, um die unermessliche Weite des Landes zu beschreiben. „Die Finnländer sind wirklich … die … könnten eigentlich Westfalen sein“, sollte wohl seine Anerkennung gegenüber den Skandinaviern zum Ausdruck bringen. „Da habe ich gleich gesehen: Die Leute waren alle sauber gewaschen“, beschreibt er seinen Eindruck aus der iranischen Hauptstadt Teheran 1964 – und wollte womöglich einfach zum Ausdruck bringen, dass die Menschen dort keineswegs so rückständig sind, wie mancher damals glauben mochte.
Vorlage für Edmund Stoiber
„Wer das nebeneinander hält, der kann gar keine andere Wahl …. Wahl….wählen“, stolpert er einen Vergleich zwischen Tiefkühl- und Frisch-Fisch zu Ende. Das gesamte Tondokument erinnert übrigens stark an den Vortrag des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, als der Jahrzehnte später die Vorzüge der schnellen Anbindung des Münchener Hauptbahnhofs an den Flughafen preisen will; wer erinnert sich nicht: „… steigen sie am Hauptbahnhof praktisch in den Flughafen ein!“
Das Problem: Lübke ist Staatsoberhaupt. Und die Zeit ist eine andere: Bieder geht es in der Bundesrepublik zu. Der 68er-Aufbruch sollte erst noch kommen. Allerdings: Die bekanntesten Fehltritte, die mit Lübke in Verbindung gebracht werden, sind dem Bundespräsidenten wohl in den Mund gelegt. Die Grußformel „Meine Damen und Herren, liebe Neger“ und der Hinweis an Königin Elisabeth II., „Equal goes it lose“ (Gleich geht es los) hat er nie verwendet. „Fake news“ aus heutiger Sicht.
In zweiter Amtszeit von Demenz gezeichnet
In der Rückschau gilt als erwiesen: Heinrich Lübke war in seiner zweiten Amtszeit ein kranker Mann. Von beginnender Demenz gezeichnet. Ein Krankheitsbild, das zu seiner Zeit so noch nicht beschrieben wird. Das aber einiges erklärt: Der Sauerländer ist kein großer Rhetoriker, aber beseelt von Pflichterfüllung. Und wagt sich stets aufs Neue auf das glatte Parkett der freien Rede, auf dem er dann, genau so sicher, ausgleitet. Umso häufiger, je weiter seine Erkrankung fortschritt.
Anfang 1969 gibt Lübke sein Amt, wenige Monate vor Ablauf seiner zweiten Amtszeit auf. Offiziell, um die Wahl eines Nachfolgers aus dem aufziehenden Bundestagswahlkampf im Herbst des Jahres 1969 herauszuhalten. Seine fortschreitende Erkrankung und die auftauchenden Vorwürfe, Lübke sei KZ-Baumeister in der Nazi-Zeit gewesen, dürften allerdings eher den Ausschlag für den Rückzug gegeben haben.
200 bis 300 Museumsbesucher pro Jahr
„Die Dokumente, die ihn mit Bauplänen für KZ-Baracken in Zusammenhang bringen, waren von der Stasi gefälscht“, legt sich Enkhausens Ortsvorsteher Gerhard Hafner fest. Hafner, CDU-Mann, Ortsvorsteher und Ruheständler ist mit viel Zeit und Engagement Museumsführer im Heinrich-Lübke-Haus. „200 bis 300 Besucher“ zählt er. Nicht in der Woche oder im Monat. Pro Jahr. Die können in der Ausstellung den Lebensweg Lübkes und seinen beruflichen Werdegang an Hand von großformatigen Fotografien, historischen Schriftstücken, Ton- und Bilddokumenten nachgehen. Und stoßen etwa auf den „Grünen Plan“, ein Aktionsprogramm, mit dem Lübke das Nahrungsangebot in den Nachkriegsjahren verbessern will.
„Er hat mitgeholfen, dass wir wieder satt wurden“, urteilt Gerhard Hafner. „Er wollte Hilfe zur Selbsthilfe geben“, sagt Klaus Kaiser aus Arnsberg-Neheim, CDU-Staatssekretär im NRW-Kulturministerium, über Lübkes Anliegen in dessen Zeit als Landes- und Bundesminister: „Lübke hat früh das erkannt, was man heute Nachhaltigkeit nennt“ – was ihm die Bezeichnungen „Grüner Heinrich“ oder der „Schwarze Sozialist“ eingebracht habe.
Was ist tatsächlich von der Präsidentschaft Lübkes, des Sauerländers als Staatsoberhaupt, geblieben? Die „Welt“ hat im Januar 2012, als sich die Affäre um den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff um geliehene Gelder für den Bau seines Privathauses zuspitzte, Lübke für einen Vergleich herangezogen: Vielleicht kann man es so sagen: Niemals hätte dieser „Ehrenmann und solide Präsident“ (Herbert Wehner) sich viel zu billiges Geld für eine „voll verklinkerte Wohnhölle am Stadtrand“ (Hans Zippert) geliehen.