Hagen. . Bis zuletzt halten die Nazis an ihrer Politik der verbrannten Erde fest. Historiker Ralf Blank hat die letzten Kriegsmonate in Südwestfalen erforscht.

Die weiße Fahne ist das Symbol für Verzweiflung und Hoffnung zugleich in den letzten Kriegswochen vor 70 Jahren. Wer sie zu früh aufhängt, riskiert nach Hitlers Flaggenerlass die Todesstrafe. Wer sie zu spät hisst, muss damit rechnen, dass die Amerikaner schießen. Zwischen Herbst 1944 und Mai 1945 kommen in Deutschland mehr Soldaten und Zivilisten ums Leben als in allen Kriegsjahren davor zusammen.

Die Alliierten fliegen ununterbrochen Einsätze gegen Eisenbahnanlagen, Brücken, Verkehrsbewegungen, Kasernen und Fabriken, unter anderem auf Hagen, Meschede, Arnsberg, Iserlohn und Olpe. 5,7 und 10 Tonnen schwere „Erdbebenbomben“ verwandeln die Umgebung des Ruhrtal-Eisenbahnviaduktes bei Arnsberg in eine Mondlandschaft; auf Hagen fallen mehr als 4500 Tonnen Spreng- und Brandbomben. Auf dem Boden wird die Heimat zur Front. Als wäre das nicht furchtbar genug, ermorden Gestapo und SS-Einheiten in den letzten Kriegswochen an Rhein und Ruhr Tausende von Menschen, nicht zuletzt, um Zeugen zu beseitigen.

Kurz vor der Kapitulation Anfang Mai 1945

Der Hagener Historiker Dr. Ralf Blank hat die Ereignisse im Vorfeld der Kapitulation in den ersten Maitagen 1945 erforscht. „Die Kriegsendphase war eine Schwelle, eine Wasserscheide, da haben sich viele die Hände sehr schmutzig gemacht. Und andere haben diese Schwelle genutzt, um sich selbst zu entnazifizieren“, resümiert der Stadtarchivar und Museumsleiter.

Plötzlich verläuft die Front in Südwestfalen. Aus dem ursprünglichen „Ruhrkessel“ wird die „Raumfestung Ruhr-Sauerland“. „Ein so riesiges Gebiet als Festung zu bezeichnen, das war schon etwas Besonderes“, konstatiert Blank nicht ohne Ironie. Die „Raumfestung“ wird rasch von zwei Seiten in die Zange genommen. Ab dem 17. April 1945 hat es sich ausgekämpft. „Die überlebenden deutschen Soldaten, die sich aus dem Kessel ‘rausschlagen wollten, wurden bis Anfang Mai in den Wäldern aufgegriffen und zu einer Sammelstelle nach Plettenberg gebracht“, so Blank.

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Der Gau Westfalen Süd ist räumlich identisch mit dem heutigen Regierungsbezirk Arnsberg. ­Gauleiter Albert Hoffmann, der in Wetter auf dem Harkortberg residiert und sich später als „Retter des Ruhrgebiets“ aufspielt, lässt noch im April 1945 Brücken sprengen und verhindert zum Beispiel die kampflose Übergabe von Hamm und Soest an die vorrückenden Alliierten. Was keiner weiß: Hoffmann hat seine eigene Flucht längst geplant und dazu Verstecke im Sauerland organisiert. „Den haben sie erst im Oktober 1945 gefangen“, berichtet Blank.

Mit ihrer Politik der verbrannten Erde wollen die Nazis es den alliierten Truppen so schwer wie möglich machen. Dass dies die eigene Bevölkerung viel mehr trifft, interessiert die Machthaber nicht. Kinder werden als letztes Aufgebot ins Feld geschickt. Noch in den letzten Kriegstagen verfrachtet man Jugendliche aus dem Sauerland nach Hohenlimburg, um sie an der Panzerfaust auszubilden. „Die Mobilität war ja dank der Holzgaslastwagen bis zum Schluss gewährleistet“, schildert Blank.

Viele Legenden

Jede Stadt und jede Gemeinde hat ihre Geschichte, was die Übergabe an die alliierten Truppen betrifft. Bis heute wird davon gesprochen, viele Legenden ranken sich um diese Tage. „Solche Themen reichen über Generationen hinweg“, beobachtet Blank, der für seine Forschungen Zeugnisse wie Tagebücher und Briefe ausgewertet hat.

Die meisten Gemeinden und Städte in Südwestfalen werden einfach überrollt. Andere wie Meschede, Hagen und Hohenlimburg kämpfen bis zuletzt. Blank: „Das kam immer darauf an, wer das Kommando führte. Die Nazi-Bürgermeister waren zu diesem Zeitpunkt oft nicht mehr zu finden. Es kam auch zu vielen Selbstmorden hoher NS-Funktionäre. Der Hohenlimburger Bürgermeister brachte sogar seine ganze Familie gleich mit um.“ „Mopping up the Ruhr“, so nennen die Amerikaner, die mit mehr Widerstand gerechnet hatten, die Einnahme Südwestfalens, „die Ruhr aufwischen.“

Gauleiter Albert Hoffmann, der Liebling von Goebbels, erfindet, bevor er untertaucht, eine spezielle Form der Selbstentnazifizierung, indem er in Westfalen Süd im April 1945 die NSDAP und den Volkssturm auflöst, parallel zu seinen Befehlen, Brücken zu sprengen. Vor dem britischen Militärgericht in Arnsberg wird er später jede Verantwortung leugnen.