Dortmund. Wegen Totschlags angeklagter Beamte (31) hat das Gesicht des Flüchtlings „immer vor Augen“. Im Gerichtssaal fließen bittere Tränen.
Sachlich und mit ruhiger Stimme erzählt der Polizist von dem Tag im August, als er mit seiner Maschinenpistole auf einen Menschen schoss: Mouhamed Dramé, Flüchtlingsjunge aus dem Senegal wurde nur 16 Jahre alt. Im Prozess um seinen Tod verliert der Angeklagte erst die Fassung, als es um seine eigenen Gefühle geht. Am Ende dieses elften Verhandlungstags fließen am Dortmunder Landgericht bittere Tränen.
„Als ich Polizist wurde“, sagt der 31-Jährige, „habe ich immer gehofft, dass sowas nie passieren wird.“ 2016 hatte er seine Ausbildung begonnen, seither immer in der Wache Nord gearbeitet. Nun sitzt er in Jeans und dunklem Pullover in der ersten Reihe unter vier mitangeklagten Kollegen, genau auf Höhe der beiden Brüder von Mouhamed Dramé, die als Nebenkläger ihm gegenüber platziert sind. Sidy, der ältere, guckt den Mann, dem Totschlag vorgeworfen wird, unverwandt an. Sieht vielleicht die zitternden Hände, das leicht gerötete Gesicht, manchmal schüttelt er stumm den Kopf.
Späterer Schütze übernahm die Maschinenpistole freiwillig
Dies ist der lange erwartete Tag, an dem der Schütze selbst sagen soll, was geschah am 8. August 2022. Bisher haben sein Einsatzleiter und viele Kollegen ausgesagt, Sanitäter und Mitarbeiter der Jugendeinrichtung, in deren Hof Mouhamed damals kauerte, ein Messer gegen seinen nackten Bauch gerichtet. Am Tag vorher war er in psychologischer Behandlung gewesen, nun rief man die Polizei, weil man befürchtete, so wiederholt auch der Polizist den Einsatzbefehl, „dass der Junge sich selbst etwas antun wollte“.
Die Geschichte erzählt er so, wie man sie in diesem Saal inzwischen oft gehört hat: wie die Polizei sich positionierte, wie Zivilkräfte Mouhamed ansprachen in Sprachen, die er womöglich nicht verstand. Wie der nicht reagierte und der Befehl zum Pfefferspray kam und für den Taser. Der 31-Jährige, Ältester in seinem Team, hatte bei der Einsatzbesprechung freiwillig die Maschinenpistole übernommen, stand als Sicherungsschütze mit etwas Abstand zu dem Jugendlichen.
Und schoss, als er sah, wie Mouhamed reagierte. Der habe sich „orientierend umgeschaut“, aufgerichtet und sei schnell losgelaufen, auf die Polizisten zu. Ob er diese in diesem Moment zum ersten Mal wahrnahm, weiß der 31-Jährige nicht, auch nicht, ob der die Funksprüche überhaupt gehört hat, die Uniformen erkannt. Er hatte nur diesen Gedanken: „Okay, jetzt muss ich ran. Dann habe ich geschossen.“ Fünf-, sechsmal, so steht es auch in der Anklage. „Ich wollte, dass er stehenbleibt.“ Dass er das Messer fallen lässt, wie es die Leute sonst tun – in seiner langen Dienstzeit in der Nordstadt habe er schon häufig die Waffe auf jemanden gerichtet. „Ich habe damit gerechnet, dass er sich überwältigen lässt.“ Wie all‘ die anderen.
„Lebensgefährliche“ Situation
Die Situation, keine Frage, empfand er als „lebensgefährlich“. Weniger für sich als für die anderen: „In meiner Vorstellung ging es in dem Moment bei den Kollegen ums Leben.“ Sie hätten keine Chance mehr gehabt zu rennen, aber gewusst: „Da ist jemand, der mich schützt.“ Für einen Warnschuss sei keine Zeit gewesen, zu kurz die Zeit, zu kurz die Distanz. „Darüber habe ich nicht mehr nachgedacht.“ Auch, wohin er schoss, sei keine Frage gewesen. „Man zielt auf die Körpermitte, weil sie das Größte ist, was man treffen kann.“ Alles sei in Bewegung gewesen, Mouhamed, die Einsatzkräfte... „man ist froh, wenn man überhaupt was trifft“. Man könne auch nicht sehen, ob man getroffen habe, „man sieht nur die Wirkung“: Mouhamed Dramé war zu Boden gegangen.
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Starke Blutungen habe er auch beim Näherkommen nicht bemerkt, Verletzungen sah er an Jochbein, rechtem Unterarm, Schulter. Auch er bestätigt, Mouhamed habe dennoch versucht aufzustehen, sei „wehrig“ gewesen. Schon deshalb traf ihn die Nachricht von seinem Tod überraschend. Bis zu diesem Punkt seiner Aussage hat der 31-Jährige nur wenige Minuten gebraucht, nun kämpft er mit den Tränen. „Es war, als wäre die Zeit stehengeblieben. Ich konnte es nicht richtig glauben. Es war ein Schock.“ Er könne das nicht in Worte fassen.
„Frage mich jeden Tag, ob ich etwas anders hätte machen können“
Es folgten zwar Besprechungen, Unterstützungsangebote von Vorgesetzten, auch Zuspruch. Es sei Notwehr gewesen, habe man ihm gesagt, er habe „so gehandelt, wie man es von mir erwartet hat“. In der Nordstadt taten die Polizisten weiter Dienst. Bis fünf von ihnen Anfang September ins Präsidium gerufen wurden. Seitdem ist der MP-Schütze, der noch eine Woche nach den Ereignissen zum nächsten Schießtraining ging, suspendiert, er darf nicht arbeiten, bei vollen Bezügen. Den Kollegen schrieb er am selben Tag, er hoffe, bald wieder bei ihnen zu sein. Und frage sich seither „natürlich jeden Tag, ob ich persönlich etwas hätte anders machen können“.
Der Staatsanwalt, der ihm den Totschlag vorwirft und den anderen Körperverletzung, will das genauer wissen. Wie es dem Angeklagten mit der Sache gehe? Der verkrampft die Finger, dass das Weiße an den Knöcheln zu sehen ist. Es habe ihn sehr mitgenommen, er könne nicht abschließen. Denke viel an Mouhamed: „Ich habe sein Gesicht jeden Tag vor Augen.“ Und, als spreche er über jemand anderen: „Man weiß, man hat einen Menschen getötet, aber es bleibt surreal.“
Zum Schluss bittet der 31-Jährige noch einmal um das Wort, er wendet sich an die Gebrüder Dramé. Äußert sein Mitgefühl, sagt: „Es tut mir sehr leid.“ Was geschehen ist, sei traurig und betreffe ihn sehr. „Ich könnte mir nie vorstellen, wie es ist, ein Familienmitglied zu verlieren“, wie schlimm für die Brüder und die Eltern zuhause. „Ich weiß, dass ich für seinen Tod verantwortlich bin.“
Er erwartet keine Reaktion und bekommt sie doch: „Eindrucksvoll“, sagt einer der Verteidiger, „anständig“ sogar die Rechtsanwältin der Nebenklage. Gegenüber sitzen schweigend Lassana und Sidy Dramé, sie kommen jeden Tag und werden bis zum Ende des Prozesses im Herbst bleiben. Beide weinen haltlos.