Dortmund. In Dortmund sind fünf Polizisten angeklagt, einer schoss. War die Situation „bedrohlich“ oder der Waffeneinsatz „ungerechtfertigt“?
Ein Junge mit einem Messer, fünf Polizisten mit Pfefferspray, Taser, Maschinenpistole. Es sind nur Sekunden, Minuten nach ihrem Zusammentreffen, da liegt Mouhamed Dramé, ein 16-jähriger Flüchtling aus dem Senegal, von fünf Schüssen getroffen auf dem Boden, es dauert nur Stunden, da ist er tot. „Keiner kennt bislang das ganze Geschehen“, sagt Michael Mertens, Vorsitzender der Polizeigewerkschaft GdP in NRW, am Dienstag im Dortmunder Landgericht. Das muss nun aufklären: Was ist wirklich passiert am 8. August 2022 in einem Nordstadt-Hinterhof?
„Sie sind nicht zur Polizei gegangen“, sagt Mertens, „um auf der Anklagebank zu sitzen, sondern um Gutes zu tun.“ Aber da sitzen sie, zwei junge Polizeibeamte, zwei junge Polizeibeamtinnen, gerade mal Polizeikommissare, und zur Tatzeit 27, 28, 29, 33 Jahre alt. Und ihr Dienstgruppenleiter, heute 55. Er soll seine Kollegen „angestiftet“ haben, dass sie die Waffen zückten gegen Mouhamed. Der soll sich die 20 Zentimeter lange Messerklinge an den Bauch gehalten haben, um sich selbst zu töten. Der heute 30-jährige Kommissar soll geschossen haben, sechsmal. Die Anklage spricht von Totschlag und Körperverletzung im Amt.
Familie von Mouhamed besucht Dortmund
Sie kommen im Pullover, alle fünf den gleichen grauen Aktendeckel vor dem Gesicht. Durch einen Hintereingang in den großen Saal 130, in dem Presseleute sich drängen, Fotografen und so viele Menschen, die auf der Straße Gerechtigkeit gefordert haben für Mouhamed. Es dauert lange, bis alle sitzen, bis die Kameras fort sind und die Polizisten ihre Gesichter zeigen, vor Aufregung gerötet. Die Familie des Opfers ist nicht da. Ob sie im neuen Jahr anreisen kann, ist ungewiss. Vater und Bruder waren vor wenigen Wochen in Dortmund, Unterstützer hatten für den Betreiber einer Näherei gesammelt. „Sehr angefasst“ seien sie gewesen, sagt ihre Anwältin Lisa Grüter, als sie dort standen, wo Mouhamed starb.
In jenem Hof der Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth, wo sich nach Auffassung des Staatsanwaltes die Tragödie so abgespielt hat: Nach einem Funkruf um 16.27 Uhr eilte die Polizei in die Nordstadt, wo sich „ein Bewohner mit einem Messer suizidieren“ wolle. Beamte in Zivil sprachen ihn dort an, auf Deutsch und Spanisch: „Hallo, geht‘s dir gut?“ Mouhamed soll in diesem Moment gebeugt gestanden haben mit dem Messer in der Hand, „an drei Seiten eingegrenzt“ durch das Kirchgebäude und einen Metallzaun mit Spitzen. „Mouhamed konnte nicht fliehen“, sagt Prof. Thomas Feltes, der dessen Familie als Nebenkläger vertritt.
Weniger als eine Sekunde, dann fallen sechs Schüsse
Laut Anklage hatte der Dienstgruppenleiter vorher Anweisungen gegeben: die zivilen Kräfte voraus, wenn die erfolglos bleiben, Pfefferspray und Taser. Die Maschinenpistole hatte der spätere Schütze „zur Sicherung“ dabei. Zwei bis sieben Meter lagen zwischen den Polizisten und Mouhamed, der reagierte nicht. Eine „statische Lage“ nennt man so etwas, mehrfach soll der Chef an das Pfefferspray erinnert haben, strittig ist, ob die Kollegen den Jungen aufforderten, das Messer wegzulegen.
Dann muss alles ganz schnell gegangen sein, glaubt der Oberstaatsanwalt: Eine Polizistin sprüht, sechs Sekunden lang, Mouhamed wischt die Flüssigkeit von seinem Kopf, dreht sich in die einzige Richtung, in die er fliehen könnte. Wenige Schritte macht er, dann trifft ihn der Stromstoß der Taser doppelt: zwei „Körpertreffer“ in den Unterleib, weniger als eine Sekunde später sechs Schüsse. Fünf treffen, in den Bauch, in die Schulter, in den Unterarm, ins Gesicht; einer streift die Hose. Um zwei Minuten nach sechs stirbt Mouhamed im Krankenhaus.
Todesschüsse auf Mouhamed: Prozess gegen Polizisten beginnt
Verteidiger: Mein Mandant empfand die Lage als „bedrohlich“
Alle Aktionen der Polizisten, sagt Ankläger Carsten Dombert, seien nicht gerechtfertigt gewesen. Der Schütze habe „den tödlichen Verlauf billigend in Kauf genommen“. Dessen Verteidiger widerspricht in einer kurzen Stellungnahme noch im Saal: „Als Mouhamed sich erhob und mit dem Messer in der Hand in Richtung der Polizeibeamten ging, empfand nicht nur mein Mandant das als bedrohlich.“ Der Senegalese habe durch den 30-Jährigen „sein Leben verloren“, das und das Verfahren belaste seinen Mandanten und dessen Familie sehr.
Durch die hinteren Reihen geht ein Raunen. Gleich zwei Unterstützergruppen Mouhameds haben sich versammelt, schon vor Prozessbeginn protestieren sie im Regen gegen Polizeigewalt. Es gibt Plakate, die einfach an Mouhamed erinnern, „am 8. August 2022 von der Dortmunder Polizei erschossen“. Und es gibt andere, die die „Abschaffung der Polizei“ fordern oder 13 Dinge empfehlen, „die du tun kannst, statt die Polizei zu rufen“. Einer der Demonstranten erhofft sich von der Verhandlung, dass sie die „Polizei zum Nachdenken anregt: Die haben keine Lizenz zum Töten.“ Die Tat sei „kein Einzelfall“ gewesen, man müsse den „strukturellen Rassismus bekämpfen“. Verteidiger Krekeler sagt: „In der angespannten Situation kam es meinem Mandanten auf die Hautfarbe von Dramé überhaupt nicht an.“
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Aber schon zuvor gab es für Nebenkläger-Vertreter Feltes, „keinen Grund, aus der stabilen Situation durch den Einsatz von Pfefferspray eine instabile zu machen“. Politik und Polizei, so der Kriminologe der Ruhr-Uni Bochum am Rande der Verhandlung, müssten ihre Strategien im Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen überdenken. Es eskalierten immer wieder Situationen, in denen falsche Entscheidungen getroffen würden. Tatsächlich hatte es nach der Tat im August 2022 erregte Debatten gegeben. Dabei ging es um den Einsatz von Bodycams, die in Dortmund ausgeschaltet geblieben waren und um die polizeiliche Ausbildung. Inzwischen, sagt Gewerkschaftschef Mertens, enthielten Polizei-Fortbildungen spezielle Trainings zum Umgang mit psychisch belasteten Menschen.
Die 39. Große Strafkammer hat zunächst zehn weitere Verhandlungstage angesetzt. Was sie vom Ausgang erwarten, sagten die fünf Verteidiger am Dienstag zunächst nicht. Lisa Grüter als Anwältin der Familie Dramé äußerte sich vorsichtig: „Schon dass es überhaupt diese Anklage gibt, ist ungewöhnlich. Von einem Urteil wage ich noch gar nicht zu träumen.“