Dortmund. Der Einsatz in Dortmund sei „gut gelaufen“, sagt der Dienstgruppenleiter vor Gericht – dass Dramé später starb, habe ihn überrascht.
Ist der Polizeieinsatz, bei dem Mouhamed Dramé erschossen wurde, tatsächlich „eigentlich gut gelaufen“, wie der Einsatzleiter am Mittwoch vor dem Dortmunder Landgericht aussagt? Es handelt sich um seine erste Bewertung, bevor er vom Tode des suizidgefährdeten Flüchtlings im Krankenhaus erfuhr. Das habe natürlich niemand gewollt, sagt er. Er habe die Wunden durch die Polizeischüsse als nicht lebensgefährlich eingestuft, habe die Bauchwunde aber auch nicht wahrgenommen, da der Niedergeschossene nach vorne gefallen sei, eben auf den Bauch. Seine Wortwahl muss man in diesem Kontext sehen, aber auch grundsätzlich stuft er den Ablauf des tödlichen Einsatzes als „ordnungsgemäß“ ein. Bedauern äußert er nicht.
Es geht um die Details an diesem Verhandlungstag. Welche Polizistinnen und Polizisten standen wo an diesem 8. August 2022, als sie Mouhamed Dramé vom Suizid abbringen sollten? Wie und wo hockte der 16-jährige Senegalese, sein Messer auf den eigenen Bauchnabel gerichtet? Warum ordnete der Einsatzleiter an, ihn „einzupfeffern“? Und wie bewegte sich Dramé, als das Pfefferspray nicht wie gewünscht wirkte? Wann fielen die Taser-Schüsse und dann die tödlichen Schüsse aus der Maschinenpistole? Wie weit hatte sich Dramé da schon mit seinem Messer auf die Polizisten zubewegt?
Auf all diese Fragen haben beteiligte Polizisten bereits geantwortet. Fünf sind angeklagt. Die Staatsanwaltschaft hält den Einsatz für unverhältnismäßig und wirft dem Schützen Totschlag, den übrigen gefährliche Körperverletzung sowie dem Einsatzleiter Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung vor. Seine Perspektive nimmt natürlich eine besondere Stellung ein. Für den 22. Mai ist die Aussage des angeklagten Schützen vorgesehen.
Über 200 Einsätze mit Suizidgefährdeten
Der Dienstgruppenleiter ist seit 1985 Polizist, seit 2011 hat er Einsätze in der Dortmunder Nordstadt geleitet – geschätzt mehr als zweihundertmal, um Menschen vom Selbstmord abzuhalten. Als er am Innenhof der Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth eintraf, wo Mouhamed Dramé gerade eingezogen war und nun mit dem Messer gegen sich gerichtet in einer Ecke hockte, zwischen Zaun und Gebäude, da wusste der Einsatzleiter bereits durch die Leitstelle und Gespräche vor Ort und die Beobachtungen seiner eigenen Kundschafter in Zivil: Dramé war am Vortag in psychiatrischer Behandlung in einer Klinik, er sprach – wenn überhaupt – dann nur schlecht deutsch, er reagierte nicht auf Ansprache.
Zeugen hatten Dramé als „apathisch“ beschrieben. Der Kriminologe Prof. Thomas Feltes, der die Familie des Opfers als Nebenkläger vertritt, sah „keinen Grund, aus der stabilen Situation durch den Einsatz von Pfefferspray eine instabile zu machen.“ Das Wort „apathisch“ benutzt der Einsatzleiter nicht. Er fragt: „Welche stabile Situation?“ Dramé habe auf Zehenspitzen gehockt, „hielt sein Messer in einer merkwürdigen und angestrengten Position“. Ein Kollege habe zunächst versucht, mit Dramé zu sprechen. „Einmal hat er sein Messer kurz abgesenkt und wieder neu justiert“. Diese Bewegung habe für den Einsatzleiter gewirkt, als wolle Dramé sich verletzen. Darauf habe er den Einsatz von Pfefferspray angeordnet, in der Erwartung, dass Dramé das Messer fallen lasse, sich die Augen reibe. Drei- bis viermal im Jahr sei er so vorgegangen.
Der Strahl traf nicht
Pfefferspray wirkt unterschiedlich auf verschiedene Menschen, dessen ist sich der Einsatzleiter bewusst. In diesem Fall traf der Strahl wohl nicht direkt das Gesicht. „Ein Nieselregen ist auf ihn niedergegangen .... Bei anderen Einsätzen kam immer der Strahl an.“ Dramé sei aufgesprungen und mit ausladenden Bewegungen des Messers auf die Polizisten zugelaufen.
Richter Thomas Kelm greift einen Vorwurf der Nebenkläger auf: Die Polizisten hätten Dramé keinen Fluchtweg geboten. „Das sehe ich nicht so“, sagt der Einsatzleiter. Er hätte zum Zaun hinter ihm laufen können oder in die Ecke, wenige Meter zu seiner Seite. Das Team habe sich relativ nah bei Dramé aufgestellt, weil das Ziel gewesen sei, ihn rasch zu überwältigen. „Unser Auftrag war, ihn dazu zu bewegen, das Messer fallen zu lassen. Das macht man eigentlich ein normaler Bürger.“ Eine Wortwahl, die Kelm zu einer Replik veranlasst. Psychisch belastete Menschen reagieren nicht immer normal. Tatsächlich hat der Fall Dramé bereits zu entsprechenden Änderungen in der polizeilichen Ausbildung geführt.
Zur Absicherung standen eine Polizistin und ein Polizist mit Tasern und ein Polizist mit einer Maschinenpistole hinter dem Zaun auf der angrenzenden Straße. Als Dramé „schlagartig“ aufgesprungen und losgerannt sei, schoss der Polizist mit dem Elektroschocker. Auch er sagt an diesem Dienstag aus. Doch offenbar verfehlte sein Treffer die Wirkung. Damit der Schock wirkt, müssen zwei Pfeile an Drähten haften bleiben. Vielleicht war ein Draht gebrochen oder er wurde bei der Bewegung losgerissen, mutmaßt der Schütze. Auch er hat, wie sein Dienstgruppenleiter, Erfahrung mit solchen Situationen, acht Jahre tat er Dienst in der Nordstadt.
Fünf Schüsse trafen ihn
Er habe eigenständig entschieden zu schießen, um den Suizidgefährdeten und auch seine Kollegen zu schützen. „Ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, was er mit dem Messer vorhat.“ Wie lange dauerte es, bis sein Kollege mit der Maschinenpistole schoss. Eine Sekunde? Zwei, drei? Die Angeklagten sagen: kurz darauf. Sie haben mindestens vier Schüsse gehört. Es waren tatsächlich sechs Schüsse, fünf trafen: in den Bauch, in die Schulter, in den Unterarm, ins Gesicht, einer streift die Hose.
Zwei Brüder von Mouhamed Dramé sind aus dem Senegal angereist und sitzen auf der Bank der Nebenkläger, zwischen ihnen ein Dolmetscher. Sidy Dramé bleibt regungslos. Als es um die Schüsse auf den Bruder geht, wischt sich Lassana Dramé immer wieder über Augen und Stirn.
Wie weit ist Mouhamed Dramé auf die Polizisten zugelaufen? Ein im Hof geparkter Smart dient als Landmarke. Kurz davor standen eine Polizistin und der Einsatzleiter. Dramé kam auf Höhe des vorderen Kotflügels zu Fall. Sein Oberkörper ragte über das Auto hinaus. Vielleicht drei, vielleicht vier Meter von den Polizisten entfernt. Der Einsatzleiter ruft noch einmal „Messer weg“, weil er nicht sieht, wo sich dieses befindet. Dann will er dem Verletzten helfen. Als Sanitäter Dramé verarzten wollten, wehrt er sich, auch im Rettungswagen noch.
Das sagen die Nebenkläger
Die Nebenklägervertreter Thomas Feltes und die Rechtsanwältin Lisa Grüter versuchen, Unstimmigkeiten in den Aussagen aufzudecken, auch im Vergleich zu den ersten Befragungen der Polizisten durch eine Mordkommission der Polizei Recklinghausen. Der Taser-Schütze hatte hier noch davon gesprochen, dass Dramé sich nach seinem Aufspringen kurz orientiert hätte. Doch aus formalen Gründen lässt Richter Kelm die ersten Aussagen als Beweismittel nicht zu, wogegen Grüter wiederum Einspruch erhebt.
Ihr viertelstündiger Vortrag ist offenbar vorbereitet. Im Kern: Die Polizisten selbst hätten in Chats und Vernehmungen Zweifel an der Vorgehensweise geäußert. Auch wenn die ermittelnden Kollegen in Recklinghausen sie sehr wohlwollend befragt hätten. Diese Protokolle müssten zugelassen werden. Richter Thomas Kelm hält dem entgegen, dass sich die Aussagen im Prozess bislang nicht unterschieden hätten von früheren Aussagen.
Der Solidaritätskreis „Justice4Mouhamed“ kritisierte schon vor dem Verhandlungstag, dass es so lange gedauert habe, bis die Polizisten sich einlassen. Eineinhalb Jahre nach dem verhängnisvollen Einsatz und vier Monate nach Prozessbeginn.