Essen. Erika hat vor fast 70 Jahren Abi gemacht, Karsten vor 35 und Anastasia steht kurz davor. Was sie gemeinsam haben – und was sie unterscheidet.
Bald beginnt für viele Schülerinnen und Schüler die wohl wichtigste und aufgrendste Prüfung ihrer Schullaufbahn: das Abitur. In Nordrhein-Westfalen treten in diesem Jahr 81.200 junge Menschen ihr Abi an. Dabei haben sich die Anforderungen und Partys rund um den Schulabschluss über die Jahre stark verändert. Ist das Abi heute leichter? Lernt man wirklich etwas fürs Leben? Ein Generationengespräch mit Erika Gerstein (86) aus Essen, Karsten Knapp (54) aus Duisburg und Anastasia Kalpakidis (19) aus Mönchengladbach.
Anastasia Kalpakidis und Karsten Knapp blättern durch das Abitur-Zeugnis von Erika Gerstein, ganz oben steht darauf: „Reifezeugnis“.
Kalpakidis: Das ist ja alles handschriftlich, diese vergilbten Seiten (lacht). Ich habe Geschichte im Abi-Leistungskurs. Es ist schön, Geschichte hier live zu erleben.
Frau Kalpakidis, in wenigen Tagen beginnen die Abiprüfungen. Wie fühlen Sie sich?
Kalpakidis: An manchen Tagen kann ich vor Stress nicht einschlafen oder träume von meiner mündlichen Prüfung. Ich will einen Schnitt von 1,3 bekommen. Meine größte Sorge ist Mathe, mein Hassfach.
Anastasia Kalpakidis (19)
- Schule: Gesamtschule Hardt in Mönchengladbach
- Abi-Jahrgang: 2024
- Lieblingsfach: Geschichte
- Hassfach: Mathe
- Schönstes Erlebnis: „Die sehr guten Freundschaften, die ich knüpfen konnte.“
Knapp: Ich habe heute noch Alpträume von Mathe-Klausuren. Die Prüfung habe ich damals mit einer fünf minus sowas von verhauen. Das war die schlechteste Note meiner Schullaufbahn.
Gerstein: Mathe war mein Lieblingsfach. Mich konnte man mit Latein jagen.
Erika Gerstein (86)
- Schule: Gesamtschule Hardt in Mönchengladbach
- Abi-Jahrgang: 2024
- Lieblingsfach: Geschichte
- Hassfach: Mathe
- Schönstes Erlebnis: „Die sehr guten Freundschaften, die ich knüpfen konnte.“
Knapp: Mich hat nach der Fünf in Mathe meine Note in Sport gerettet. Meine Abi-Gesamtnote lag dann bei 3,2 – weit weg von 1,3.
Gerstein: Ich hatte einen Abischnitt von 3,5. Man kann das aber nicht mit den heutigen Noten vergleichen. Die Note „sehr gut“ hat man bei uns nur erreicht, wenn man kein Komma vergessen hat. Das war damals viel strenger.
Frau Gerstein, mit Ihnen haben damals in ganz NRW 11.170 Schülerinnen und Schüler Abitur gemacht.
Gerstein: Ich war auf einer Mädchenschule, wir waren damals nur 23 Schülerinnen. Früher haben Mädchen viel seltener Abitur gemacht.
Im vergangenen Jahr haben 78.805 Schülerinnen und Schüler in NRW ihr Abitur erreicht, also sieben Mal so viele.
Knapp: Das ist ein Unterschied. Da hat sich einfach etwas geändert. In der Nachkriegsgeneration konnten sich viele Familien ein Abitur gar nicht leisten...
Karsten Knapp (54)
- Schule: Gesamtschule Hardt in Mönchengladbach
- Abi-Jahrgang: 2024
- Lieblingsfach: Geschichte
- Hassfach: Mathe
- Schönstes Erlebnis: „Die sehr guten Freundschaften, die ich knüpfen konnte.“
Gerstein: Meine Eltern hatten den Zweiten Weltkrieg miterlebt, hatten gesehen, wie viele Männer dort gefallen sind oder in Gefangenschaft waren – und wie dann die Frauen auf sich gestellt waren. Mein Vater sagte damals: Ich will meinen Töchtern die beste Ausbildung geben, die möglich ist. Das war eigentlich sehr modern, wenn man bedenkt, dass er 1894 geboren wurde.
Knapp: Das stimmt. In meiner Generation war es schon deutlich normaler, das Abitur zu machen. Heutzutage muss man gefühlt Abitur machen, um später überhaupt einen guten Job zu bekommen.
Gerstein: Dass heute mehr junge Menschen Abitur machen, bedeutet aber nicht, dass sie intelligenter geworden sind.
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Knapp: Ich glaube auch, dass unser Abi früher ein Ticken schwieriger war.
Kalpakidis: Dass uns heute das Abi hinterhergeworfen wird, kann man aber nicht sagen. Jedes Jahr kommt mehr Wissen in die Prüfungen, wir müssen in den einzelnen Fächern immer mehr können. Was wir machen, ist „Bulimie-Lernen“: Wir lernen so viel in so kurzer Zeit, dass wir es direkt wieder vergessen, nachdem wir es aufgeschrieben haben.
Gerstein: Wir hatten es auch nicht leicht. Ich bin damals in drei Fächern mündlich geprüft worden. Die Herausforderung: Wir bekamen vorher nicht gesagt, in welchen Fächern. Als sie es uns dann gesagt haben, brach ich in Tränen aus: Mathematik, Deutsch und Religion. Ich konnte davon nur Mathematik. In Religion hatte ich dann das Thema: Hiob und die Frage der Schuld im Alten und Neuen Testament. Ich hatte natürlich keine Ahnung.
Kalpakidis: Das wäre mein persönlicher Horror, nicht zu wissen, was da auf mich zukommt.
Gerstein: Oh ja. Für die mündliche Prüfung wurde auch erwartet, dass wir uns schick machen.
Kalpakidis: Heute kann man sich bei den Prüfungen zwar anziehen, wie man möchte, aber uns haben schon viele Lehrkräfte gesagt, dass man mit einem guten Erscheinen sympathischer wahrgenommen wird. Ich werde auch ein Hemd und eine schickere Hose anziehen, damit es professioneller wirkt, ähnlich wie bei einem Bewerbungsgespräch.
Karsten Knapp blättert durch die Matheklausur, die Erika Gerstein mitgebracht hat. „Wie groß ist der Flächeninhalt des Parabelabschnittes?“, hat Gerstein die Aufgabenstellung noch einmal fein säuberlich in Schreibschrift aufgeschrieben. Darunter steht ihre Rechnung, die sie in einem langen Text begründet.
Wie haben sich die Abi-Aufgaben verändert?
Knapp: Mir fällt zuerst auf, was sich nicht verändert hat! Die Blätter sind geknickt: Auf der einen Seite wurde geschrieben, die andere Hälfte ist Korrekturrand. Das zieht sich jetzt schon von 1957 bis heute durch.
Kalpakidis: Bei uns steht heute viel mehr Text in den Aufgaben, alles ist anwendungsbezogener. Zum Beispiel: „Frau Müller geht in den Supermarkt und kauft ein…“ Man muss sich dann aus dem Kontext eine Rechnung erschließen. Dafür sind unsere Antworten dann viel kürzer.
Gerstein: Bei uns wäre das der Tante-Emma-Laden gewesen (lacht). Aber anwendungsbezogen waren die Aufgaben im Abitur damals wirklich nicht. Ich glaube, es gibt noch einen riesigen Unterschied: Wir hatten keine Taschenrechner und mussten alles selbst rechnen.
Kalpakidis: Unsere Taschenrechner sind wie kleine Computer. Ich muss erstmal die Technik hinter dem Taschenrechner verstehen, um eine Matheprüfung machen zu können. Die Digitalisierung hat einiges schwerer gemacht. Viele Schülerinnen und Schüler haben Probleme, Texte zu schreiben, haben den Textaufbau verlernt. Bei den Hausaufgaben greifen wir als Unterstützung auf Künstliche Intelligenz zurück. Das geht in der Abi-Klausur ja nicht. Wir müssen lernen, trotz der vielen Möglichkeiten wie ChatGPT wieder selbstständiger zu lernen.
Gerstein: Chat... was? Was ist das?
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Kalpakidis: Eine programmierte Seite, auf der man zum Beispiel eine Frage eingeben kann und die Seite gibt dann durch künstliche Intelligenz eine Antwort.
Knapp: Verstehe. Wir mussten früher erst in die Bibliothek gehen und stundenlang nach Büchern suchen. Heute googelt man einfach.
Zur Abizeit gehört natürlich mehr als Lernen und Prüfungen. Wie wurde früher gefeiert?
Knapp: Ich erinnere mich gerne an unseren Abistreich 1989: 200 Jahre vorher, 1789, war der Sturm auf die Bastille. Also haben wir die Französische Revolution nachgespielt. Wir haben uns verkleidet, zwei Mädels hatten sogar weiße Perücken und haben sich ganz weiß geschminkt. Das war super. Die Adligen, die Lehrer, wurden aus dem Lehrerzimmer gezerrt und in die Aula, die Bastille, geführt und dem Henker vorgeführt.
Gerstein: Was? Wie haben denn die Lehrer da reagiert? Musstet Ihr Euch hinterher entschuldigen?
Knapp: Nein, das war völlig okay für die.
Gerstein: Oh (lacht). Das wäre bei uns unmöglich gewesen.
Kalpakidis: Wir planen gerade unseren Abi-Streich. Ende Juni kommt dann noch der Abiball. Der ist bei uns schon ziemlich hochgefahren. Es wird einen Sektempfang geben, die Bühne in der Turnhalle wird mit Luftballons geschmückt. Ich habe etwas Bedenken, wie teuer es sein wird.
Gerstein: Oho.
Kalpakidis: Es wird eine richtige Zeremonie: Jede und jeder bekommt ihr oder sein Zeugnis, dann werden ein paar Lieder gespielt, Urkunden verliehen. Alles, was eben so dazu gehört. Und dann feiern wir abends.
Gerstein: Richtig in Abendkleid?
Kalpakidis: Ja. Unser Motto ist 70er-Jahre.
Gerstein: Das gab es bei uns nicht. Wir hatten gar nicht die Möglichkeit, zu feiern.
Knapp: Wir hatten nur eine kleine Feier in einer Kleingartenanlage. Da gab es kein Buffet, da wurden einfach zwei Kästen Bier hingestellt.
Gerstein: Ich musste zehn Tage nach dem Abi ja schon in der Apotheke anfangen. Aber da bin ich erwachsen geworden und habe das Arbeiten gelernt. Und das kann man fürs Leben ja auch gebrauchen.
Haben Sie im Rückblick eigentlich das Gefühl, dass die Schule Sie gut aufs Leben vorbereitet hat?
Knapp: Wie beantrage ich einen Personalausweis? An wen kann ich mich wo in Deutschland wenden? Wie sorge ich für die Rente vor? Habe ich nie gelernt.
Gerstein: Bei uns hat man schon auf Allgemeinbildung geachtet. Es wurde auch noch der hauswirtschaftliche Teil angeboten, das „Pudding-Abitur“. Da hat man zum Beispiel Kochen gelernt.
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Knapp: Wenn man fertig ist mit der Schule, fragt man sich ja: Was mache ich denn jetzt? Ich hatte das große Glück, wenn man es so nennen mag, dass wir noch die Wehrpflicht hatten. Das war eine richtig coole Zeit. Wäre ich heimatnaher stationiert gewesen, hätte ich mich auch verpflichtet. So habe ich mich dann doch dazu entschlossen, eine Ausbildung anzufangen als Sozialversicherungsfachangestellter. Ich habe nicht studiert, obwohl ich es mal wollte. Aber das Geld war schon existenziell.
Gerstein: Ich wollte eigentlich erst Tierärztin werden, dann Fotografin. Aber ich bin dem Rat meines Vaters gefolgt und habe eine Ausbildung in der Apotheke gemacht. Die heutige Generation hat ja so viel mehr Möglichkeiten als wir früher. Was möchtest du denn nach der Schule machen, Anastasia?
Kalpakidis: Ich möchte studieren, in Richtung Kriminalpsychologie.
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Knapp: Meine Tochter auch. Sie macht dieses Jahr auch Abi. Ich rate ihr immer: Sie soll auf jeden Fall ihren Traum verwirklichen.
Erika Gerstein klappt ihr „Reife-Zeugnis“ wieder zu.
Gerstein: Wir bekamen außer den Zeugnissen, die wir behalten durften, auch noch eine Beurteilung. Da stand dann: „Kindlich aber entwicklungsfähig“ (lacht). Aber wie man sehen kann, ist aus mir nun doch eine gestandene Frau geworden.
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