Bochum. Eike Völker hat seine Schule digitalisiert. Er ist überzeugt: Künstliche Intelligenz kann Unterricht besser machen. Das sehen nicht alle so.
Die Klasse steht auf und ruft in gedehntem Singsang: „Guten Morgen, Herr Völker und alle zusammen.“ Der antwortet nicht mit: „Setzen, Hefte raus.“ Das war einmal. Er sagt: „Setzt euch, alle holen ihre Tablets raus.“
Klasse 6b in der Bochumer Schiller-Schule, ein Gymnasium in einem gutbürgerlichen Viertel mit knapp 1000 Schülerinnen und Schülern. Lyrik ist das Thema. Ludwig Uhlands „Frühlingsglaube“ – von 1812. „Die linden Lüfte sind erwacht / Sie säuseln und weben Tag und Nacht“. Himmel, was sollen Elf- und Zwölfjährige damit anfangen? „Ich finde es cool“, sagt Lilly. „Es macht Spaß mit dem Tablet zu arbeiten, auch bei alten Gedichten.“ Ach so?
Aber was hat das mit Künstlicher Intelligenz (KI) zu tun? Eike Völker (47) unterrichtet Deutsch und Sozialwissenschaften, er ist Rektor der Schule. In den vergangenen Jahren hat er sein Gymnasium konsequent digitalisiert. „Wir haben ein WLAN, das gut 1000 Endgeräte aushält, jeder Schüler hat ein digitales Endgerät, und das Kollegium zieht mit. Wir wollen mit Hilfe der KI keine Inhalte ersetzen, sondern den Lernraum erweitern“, sagt er. Und die Klasse 6b zeigt jetzt, wie das geht.
Die Schüler fragen den Chatbot
„Was sind denn linde Lüfte?“, fragt Maxi. „Ich frage mal den Chatbot.“ Über ihre iPads gebeugt analysieren die Kinder in Kleingruppen Uhlands Verse. Es geht um Stilmittel, Metapher, Personalisierung und Reimschema. Aber vorher will Lehrer Völker von der Klasse noch wissen: „Was ist denn überhaupt Lyrik?“ Einige Hände gehen hoch. Justus sagt: „Ein Minimum an sprachlichen Zeichen enthält ein Maximum an Aussage.“ Genau: Wenig Text, viel Bedeutung, nickt Völker.
Die Kinder laden jetzt ihre Arbeitsblätter hoch. Der Arbeitsauftrag lautet: Formuliere eine Hypothese zur Aussage des Gedichts, wenn du Wortfragen hast, nutze die Schul-KI. In einer Spalte tragen die Kinder ihre Interpretation eines Verses ein und vergleichen dies mit den Antworten der Künstlichen Intelligenz. Dafür ist eine exakte Fragestellung wichtig, die sogenannten Prompts müssen sitzen, sonst gibt die KI nur diffuse Antworten. Jonas weiß: „Die Schul-KI braucht genaue Prompts, sonst kriege ich keine gute Antwort.“
Kein Mittel gegen Bildungsungleichheit
Das bedeutet, die Kinder müssen sprachlich präzise formulieren, damit die KI die gewünschten Antworten generieren kann. Und diese müssen anschließend gewertet und überprüft werden. Passt die Antwort zu meiner Frage? Stimmt sie oder führt sie auf eine falsche Fährte? Dafür müssen sie mit Texten gut umgehen können und sprachsicher sein. Daher glaubt Völker auch nicht, dass KI ein Allheilmittel gegen Bildungsungerechtigkeit ist. In seiner Schule, das weiß er, können die Lehrkräfte mit KI ganz anders arbeiten als etwa an einer „Brennpunktschule“. „Für Kinder aus bildungsfernen Familien ist das sicher schwieriger.“ KI könne die soziale Kluft sogar vergrößern, das bereite ihm Sorgen.
Konzentriert schreiben die Kinder mit einem Stift auf ihren Bildschirmen, darauf legt Völker wert. Von Hand zu schreiben, sei für die Entwicklung wichtig. Und Lilly schreibt: „Ich glaube, das Gedicht handelt vom Frühling, der bald eintrifft.“ Und die linden Lüfte? „Man riecht schon die Blumen, die jetzt wachsen.“ Intensiv diskutiert die Gruppe über Blumen, Wind, frische Düfte und Reime. „Die Natur erwacht nach dem Winter“, sagt ein Schüler. Völker ist zufrieden. Aber was bedeutet denn bitte „säuseln“? Frag doch die KI!
Die Kinder machen, was Völker im Sinn hatte: Sie erarbeiten sich selbstständig mit Hilfe der KI einen Text. Die Technik wird zum Lernbegleiter, erklärt der Pädagoge, „zum Studybuddy.“ KI soll keine Inhalte ersetzen, Völker versteht sie als „Erweiterung des Lernraums“, eine weitere Möglichkeit, Stoff zu vermitteln und sich anzueignen und die Kinder auf die digitale Welt vorzubereiten. „Und wir holen sie damit ab.“
KI soll helfen, den Unterricht anders und besser zu gestalten
Der Sprachroboter werde nicht dazu führen, leichter zu lernen, sondern anders. Und dabei geht es ja nicht nur um Lyrik: In Naturwissenschaft entwickeln Schülerinnen und Schüler zum Beispiel neuronale Netze, mit deren Hilfe sich das Sprungverhalten von Wasserflöhen vorhersagen lässt. Solche Sachen. Aber das kommt erst in der Oberstufe, im Projektkurs „Nerds“.
Vor einigen Jahren hat sich die Schule unter Völkers Leitung auf den Weg ins digitale Zeitalter gemacht, da war von ChatGPT noch gar nicht die Rede. Inzwischen sieht er seine Schule als digitale Vorreiterin weit über die Stadtgrenzen hinaus. „Unsere Idee war immer, das Digitale mit der Pädagogik zu verweben. Wie kann ich ein Thema technisch umsetzen?“ Die KI sei lediglich ein Instrument, das dabei helfen könne, den Unterricht anders und besser zu gestalten. Völker empfindet das als „große Bereicherung“.
Viele Lehrkräfte sind unsicher beim Umgang mit KI
Viele Lehrkräfte sind ganz anderer Ansicht. Denn Sprachroboter wie ChatGPT und andere können auf Anfrage in Windeseile komplette Aufsätze, Artikel, Referate oder Hausarbeiten schreiben. Sie können Texte übersetzen oder Bilder erstellen. Es werde immer schwieriger zu unterscheiden, was von einer KI stammt und was eine eigene Leistung ist. Daher herrscht unter vielen Lehrkräften große Unsicherheit, wie man die KI im Unterricht sinnvoll einsetzen kann. Das ergab jüngst eine Umfrage unter mehr als 850 Lehrkräften des Philologenverbands NRW.
Zwar seien die Sprachroboter längst im Schulalltag angekommen, dennoch gaben mehr als die Hälfte (52 %) der befragten Lehrerinnen und Lehrer an, KI im Unterricht nicht zu nutzen. 23 Prozent sprachen sich für ein grundsätzliches KI-Verbot im Unterricht aus. Die meisten Lehrkräfte empfanden demnach ChatGPT und Co. nicht als Erleichterung ihrer Arbeit, sondern als zusätzliche Belastung. Generell vermissen die Pädagogen Vorgaben des Landes zur rechtssicheren Nutzung von KI, konkrete Hilfen für die Anwendung im Unterricht sowie Anleitungen, wie man Texte erkennen kann, die Schüler mithilfe der KI erstellt haben.
Mit der KI kann man auch schummeln
Herr Völker, schummeln die Schülerinnen und Schüler mit der KI? „Ja, ganz bestimmt“, lächelt der Schulleiter. Aber er scheint damit kein Problem zu haben. „Ist es weniger verwerflich, die Eltern zu fragen?“ Als Pädagoge sagt er: „Alles, was ich mir vorsagen lasse, hilft mir nicht weiter. Nur wenn ich etwas selbst erarbeite, verstehe und behalte ich es.“ Und dabei könne die KI helfen.
Frieda aus der 6b sieht es ähnlich. „Ist doch super, dass ich die KI fragen kann, wenn ich etwas nicht weiß“, meint sie und beugt sich wieder über Uhlands „Frühlingsglaube“. Dann runzelt sie die Stirn: „Nur was ein Kreuzreim ist, wusste sie nicht.“
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