Solingen. Erst das Feuer mit vier Toten, dann ein Machetenangriff: Polizei glaubt, den Täter zu haben. Was haben die Taten miteinander zu tun?
Zwei Wochen waren Zeit genug, um die Gerüchte überkochen zu lassen: Ein verheerendes Feuer in Solingen, Brandstiftung, vier Todesopfer – sollte das wieder ein rassistischer Anschlag gewesen sein wie 1993? Zwei Wochen waren aber auch Zeit genug für die Polizei, die Hintergründe „weitgehend aufzuklären“, wie der zuständige Wuppertaler Polizeipräsident Markus Röhrl am Mittwoch erleichtert sagte: Ein 39-Jähriger sei dringend verdächtig, den Brand gelegt und wenig später einen Bekannten mit einer Machete schwer verletzt zu haben. Warum? „Beide Tatmotive“, sind sich die Ermittler sicher, „liegen im persönlichen Bereich.“
Sie wissen noch nicht viel über den Mann, der seit Anfang der Woche in Haft sitzt. Ausbildung, Beruf, Krankheiten? Im Strafblatt ein paar „geringe Taten“, Unterschlagung, Diebstahl. Das Alter ist bekannt, der deutsche Pass – und dass er weiße Turnschuhe trug in der Tatnacht. Das ist auf Bildern deutlich zu erkennen. Videoüberwachung, wie Staatsanwalt Heribert Kaune-Gebhardt es ausdrückt, ist ein großes Wort für die Kameras an Eisdiele und Friseursalon in der Nachbarschaft, die auch am 25. März aufnahmen, wer da kam und ging in der Grünewalder Straße. Es kam und ging nur einer, sah die Mordkommission „Grün“: mehrfach hinein und hinaus aus dem Bild, dazwischen
das Haus, in dem vier Menschen starben
und acht verletzt wurden.
Brandgutachten ergab schnell: Es war Brandstiftung
Der Moment, in dem das Feuer ausbricht, sei ebenfalls gefilmt, sagt der Erste Kriminalhauptkommissar Björn Goecke. 2:46 Uhr, drei, vier Minuten davor sichten sie den Unbekannten erneut, er bewegt sich zum Gebäude hin. Er trägt etwas, einen Rucksack, womöglich einen Benzinkanister. „Er geht zurück und wieder hin, geht schnell weg, der Brand bricht aus.“ Erkennen können sie die Gestalt nicht, aber es ist ein Puzzlestück. Dieser Mann muss es gewesen sein, der an der Holztreppe des alten Hauses zündelte, jemand anders war da nicht. Ein Hausbewohner, der nach der Tat vorübergehend festgenommen wurde, hat ein wasserdichtes Alibi.
In jener Nacht verlor eine vierköpfige Familie aus Bulgarien ihr Leben im Feuer, die Eltern (28 und 29), ihre kleine Tochter (2) und das Baby (wenige Monate alt). Acht Menschen wurde verletzt, einige retteten sich durch einen Sprung aus dem dritten Stock, einer liegt immer noch auf der Intensivstation. Eine fremdenfeindliche Tat, wie damals, als ebenfalls in Solingen fünf Mitglieder der Familie Genç in ihrem brennenden Haus umkamen? Auch, dass die Staatsanwaltschaft diesmal schnell sagte, es gebe „keine Hinweise auf einen rassistischen Hintergrund“, rief Integrationsrat und Islamverband Ditib auf den Plan. Von gesellschaftlich aufgeheizter Lage und einer „Fortsetzung der Gräueltat von vor 30 Jahren“ wurde fabuliert.
Brandanschlag von Solingen: Ermittlungen „in alle Richtungen“
Die Ermittlungen aber laufen weiter „in alle Richtungen“, wie die Polizei das so sagt und wie der Chef der Mordkommission es am Mittwoch mehrfach wiederholt: „Es klingt wie eine Floskel, aber es ist genau so. Und zwar immer, ich betone: immer!“
Auf neuen Videoaufzeichnungen einer nahen Tankstelle erkennt die Polizei den Unbekannten wieder, diesmal in Farbe. Die Vermieterin des ausgebrannten Hauses erinnert sich an einen Streit mit einem ehemaligen Mieter aus dem Hinterhaus, sie hatte ihm Anfang 2022 gekündigt. Noch ein Puzzlestück. Die Kameras werden technisch überprüft, die Farbgebung der Nacht mit der vom Tag verglichen. Was die Ermittler herausfinden, nennt ihr Chef „herausragendes kriminalistisches Geschick“. Haben sie ihn?
In Krimis würde die Geschichte nun so weitergehen: Ab jetzt geht alles ganz schnell. Aber in Solingen kommt es anders. Die Polizei hat einen Durchsuchungsbeschluss für die neue Wohnung des 39-Jährigen erwirkt, sie bestellt ein Sprengstoffkommando für den Zugriff. Sie planen die Taktik, wollen vorsichtig sein, keine Spuren vernichten, sie halten den Mann für gefährlich. Es ist Montagmittag, der 8. April.
Rassistisch oder nicht? Kein Hinweis auf fremdenfeindliches Motiv
Da kommt ein neuer Notruf, Birkenweiher, nicht weit entfernt vom Grünewald. Ein 44-Jähriger ist in seiner Wohnung mit einer Machete angegriffen worden. Die mehr als 40 Zentimeter lange Klinge hat schwerste Verletzungen verursacht, der Blutverlust ist enorm, auf der Treppe bekommt das Opfer noch einen Tritt, bricht sich den Fuß. Aber ruft dennoch um Hilfe – und nennt einen Namen. Den des Mannes, den die Polizei gerade anderswo festnehmen wollte. „Das eine hat das andere überholt“, sagt Staatsanwalt Kaune-Gebhardt.
- Brandanschlag in Solingen: „Ermittlungen in alle Richtungen“
- Integrationsrat: „Solinger Brandanschlag ist rassistisch“
- Solingen-Anschlag: Wer nichts weiß, sollte den Mund halten
- Brand in Solingen: Risiko Holztreppe wird „toleriert“
Sie hätten die zweite Tat nicht verhindern können, sagen die Beamten am Mittwoch, es gebe zwischen beiden „keinerlei Zusammenhang“. Nur den mutmaßlich selben Täter. Das Opfer am Birkenweiher kennt er seit Jahren, in diesem Fall stritten sie wohl um ein missglücktes Drogengeschäft. Der Beschuldigte soll der Verkäufer gewesen sein; in seinem Haus findet man später eine kleine, aber professionelle Marihuana-Plantage. Und offenbar einen Benzinkanister. Sowie weitere Beweise für die Brandstiftung, die die Polizei noch nicht nennen will. So viel aber ist zu hören: Dass ihm beide Taten „sicher zugerechnet“ werden können.
Verdächtiger in Untersuchungshaft, Motiv noch unklar
Der Mann sitzt zunächst nur wegen des Messerangriffs in Untersuchungshaft: versuchte Tötung und Körperverletzung. Bislang sagt er nichts, auch nicht zum Warum. Es gebe „keine Erkenntnisse“, wiederholt der Staatsanwalt, „auch nicht auf ein fremdenfeindliches Motiv“. Aber natürlich habe man „alles von 1993 im Kopf“ und umfangreich abgeklärt, auch mit dem Staatsschutz. Zeugen, dem Beschuldigten eng verbundene Menschen, hätten ausgesagt, er habe „Freunde über alle Nationalitäten und Kontinente hinweg“ und sei einer politischen Partei der Mitte zugeneigt. Das zeigten auch seine Einträge in den sozialen Medien.
Trotzdem kommt bei der Pressekonferenz die Frage immer wieder: Wie kommt jemand dazu? Warum hier das Feuer, da die Machete, hier Bulgaren, dort ein Deutscher, könnte nicht doch...? „Ein Tatmotiv“, schaltet sich irgendwann Oberstaatsanwalt Wolf-Tilman Baumert ein, „muss nicht objektiv sinnvoll sein.“