Rheine. Ein junger Mann verunglückt, die Familie muss am Sterbebett entscheiden: Sollen seine Organe gespendet werden?
Ihr antwortet die Stille. Petra Lange steht an einem Sonntagabend im zweiten Pandemie-Winter in der Küche und blickt in die erschöpften und schweigsamen Gesichter ihrer Familie. Ihre Tochter Anna sitzt am Tisch, daneben ihr Ex-Mann, auch ihr Mann. Das Gesicht ihres Sohnes fehlt.
Den ganzen Tag hat Petra Lange auf der Intensivstation der Uniklinik Kassel an Florians Bett gesessen. Sie hat ihn geküsst, sie hat ihn gestreichelt, und obwohl am fast regungslosen Körper ihres Kindes kaum äußere Verletzungen des Autounfalls zu sehen sind, hat sie es irgendwie gewusst. „Flo wird sterben“, sagt sie an diesem Abend in der Küche ihres Ex-Manns und spricht mit ungeahnter Stärke die eine entscheidende Frage laut aus: „Was machen wir, wenn sie uns fragen, ob seine Organe gespendet werden sollen?“
In der Küche antwortet ihr die Stille.
Organspende: Oft müssen die Angehörigen entscheiden
Bei der Frage nach einer Organspende steht in Deutschland die Zustimmung des möglichen Spenders im Mittelpunkt. Im Idealfall hat er seine Entscheidung bereits zu Lebzeiten dokumentiert. Der einfachste Weg dazu ist ein Organspendeausweis, der in vielen Arztpraxen zum Ausfüllen ausliegt oder im Internet kostenfrei zu bestellen ist.
Seit 18. März können Menschen zudem im neuen Organspenderegister unter organspende-register.de hinterlegen, ob sie bereit sind, Organe oder Gewebe zu spenden. Bis 1. Juli sollen auch die Entnahmekrankenhäuser die Erklärungen zur Organspende abrufen können.
Doch oft bleibt es nur bei der Absicht – weil immer irgendetwas dazwischen kommt, weil man unangenehme Thema eben vor sich her schiebt, weil man jung ist und der Tod so unendlich weit weg erscheint. In den meisten Fällen fällt die Entscheidung deshalb den Angehörigen zu: Was wäre in seinem Sinn?
Die Schwester bestellte Organspendeausweise, der Bruder wollte einen
Sie habe mit ihrem Bruder darüber gesprochen, sagt Anna Schubert drei Jahre nach Florians Unfall. „Ich wollte vor einiger Zeit für mich einen Organspendeausweis bestellen und habe gleich ein paar mehr genommen, weil ich sie verteilen wollte.“
Anna Schubert ist heute 26 Jahre alt, eine schlanke Frau mit schwarzen langen Haaren und ernstem Blick. Sie sitzt in Rheine, im Norden von NRW, im Wohnzimmer neben ihrer Mutter. Als Petra Lange zu ihrem neuen Partner zog, ging Anna Schubert mit. Ihr Bruder Florian blieb beim Vater im ländlichen Kreis Höxter.
Ihr Bruder habe auch einen Ausweis gewollt, aber letztlich nicht genommen, sagt Anna Schubert. „Flo war einfach so“, sagt Petra Lange und lächelt über ihre Erinnerungen. „Er hätte gesagt: ‘Ja, mach‘ ich, mach‘ ich gleich morgen‘, und dann hätte er es doch wieder vergessen, weil etwas anderes aufgekommen ist.“
Er sei schon als Kind ein quirliger, aufgeweckter Junge gewesen, sagt die 58-Jährige. Ein Schelm, über dessen Einfälle sie mehr habe schmunzeln müssen, als dass sie hätte schimpfen können. Ein Beobachter, der mit Imitationen von Dieter Bohlens Naddel oder dem Harry-Potter-Zauberer Albus Dumbledore die ganze Familie zum Lachen gebracht habe. Ein Menschenfänger, der in der Grundschule Zettelchen von den Mädchen zugesteckt bekommen und selbst immer zu seiner nur 16 Monate älteren Schwester aufgeschaut habe.
„Flo wollte immer, dass andere Menschen glücklich sind“, sagt Anna Schubert heute. Auf Bildern im Wohnzimmer blickt man auf das erwartungsvolle Lächeln eines jungen Mannes, der noch alles vor sich hat.
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Der Abend, der das ändert, ist der 27. Februar 2021, ein Samstag in der Corona-Pandemie. Florian verunglückt mit seinem Auto auf einer Straße, auf der er wohl schon Tausend Mal unterwegs war. Der Wagen kommt mit überhöhtem Tempo von der Straße ab, überschlägt sich, Florian wird herausgeschleudert. Sein Vater hört den Unfall vom Balkon aus.
Gegen 19 Uhr sieht Petra Lange auf dem Handy sieht die Nummer ihres Ex-Mannes und weiß, dass etwas mit Florian ist. Passiert so etwas nicht nur den anderen?
Eine Intensivpflegerin warnt: Erschrecken Sie nicht.
Die Familie muss viele quälende Stunden abwarten, während Florian in der Uniklinik Kassel operiert wird. Wegen der Pandemie gibt es strenge Besuchsregeln, Petra Lange, ihr Mann und ihre Tochter fahren am späteren Sonntagvormittag in die Uniklinik. Eine Intensivschwester hält die vollkommen übermüdete Familie auf. Sie solle nicht erschrecken, wegen der vielen Geräte, die Florians Herz-Kreislauf-System aufrechterhalten.
„Dabei sah er gar nicht schlimm aus“, sagt Petra Lange drei Jahre später. „Nur der Kopf war verbunden.“ Darunter war die Schädeldecke geöffnet worden, weil das Hirn durch den Aufprall stark angeschwollen war. Der 22 Jahre junge Mann liegt im Koma.
An jenem Sonntagabend in der Küche treffen sie schließlich eine Entscheidung – für die Organspende. „Das war unspektakulär“, sie alle hätten Organspendeausweise, sagt Petra Lange. Sie als Mutter treibt noch ein anderer Gedanke an: „Ich wollte unbedingt verhindern, dass irgendwo noch eine Mutter an dem Sarg ihres Kindes stehen muss.“
Der Familie bleiben zwei Tage mit ihrem Sohn und Bruder
Ein sehr guter Oberarzt habe ihnen am nächsten Morgen erklärt, wie schwer Florians Hirn bei dem Unfall verletzt worden war. „Flo wird sterben“, habe er sagt. Und als er zu einer Frage angesetzt habe, sei die Mutter ihm zuvorgekommen: „Wir haben darüber gesprochen. Wir sagen Ja zur Organspende“, habe sie gesagt. Nur bitte keine äußeren Organe. „Unser Flo war da ein bisschen eitel“, erzählt Petra Lange heute und wischt sich schmunzelnd Tränen von der Wange.
Nach den notwendigen Unterschriften bleiben der Familie zwei Tage. Die Mutter wacht an Florians Bett. Sie darf bei der Körperpflege helfen und bei ihm übernachten. Ein Geistlicher kommt, weil Petra Lange „Flo nichts verbauen will“. In der Nacht auf den 3. März glaubt sie zu spüren, wie das letzte bisschen Leben aus Florians Körper entweicht.
Die Sicherheit hat sie wenige Stunden später. Zwei Ärzte diagnostizieren nach gesetzlich klar vorgeschriebenen Regeln unabhängig voneinander den sogenannten Hirntod, einen unumkehrbaren Ausfall der gesamten Hirnfunktion. Nur die medizinischen Geräte halten sein Herz-Kreislauf-System noch künstlich aufrecht, damit die Organe mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt sind. Todeszeitpunkt: 15.35 Uhr.
Deutsche Stiftung Organtransplantation vermittelt anonymisierte Briefe
Es kommt jemand von der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), die in Deutschland postmortale Organspenden koordiniert und an die Vermittlungsstelle „Eurotransplant“ übergibt. Für Angehörige ist die DSO Ansprechpartnerin, Erklärerin und Vermittlerin. Weil sich Familien der Spender und die Empfänger nicht kennenlernen dürfen, vermittelt die Stiftung anonymisierte Informationen und Briefe.
Die Geschichte von Florian kennt man bei der DSO gut: Sein Herz, seine Lunge, seine Leber, die Bauchspeicheldrüse und beide Nieren haben sechs schwerst kranke Menschen erreicht, die jüngste Empfängerin war damals ein Säugling. Diese hohe Zahl an Transplantationen ist ungewöhnlich.
Ein junger Mann hat bislang geschrieben: der Empfänger des Herzens
Davon erfährt Petra Lange etwa sechs Wochen nach Florians Tod. Sie hält den ersten Brief der DSO in zittriger Hand und fragt sich erstmals, wer diese Empfänger sind und wie es ihnen geht. „Was muss es für sie für ein Gefühl gewesen sein, endlich diesen einen berühmten Anruf bekommen zu haben, dass das Warten für sie endlich ein Ende hat.“
Ist das ein Trost? Nein, sagt Petra Lange deutlich: „Flo ist nicht für diese Menschen gestorben. Er ist gestorben, und diese Menschen leben.“
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Nur einer der Empfänger habe ihr bislang anonymisiert geschrieben, ein junger Mann, der zum Zeitpunkt der Herztransplantation vor dem Abitur stand. Seine ersten Zeilen drücken Wortlosigkeit aus – und Dankbarkeit. „Was würde ich dafür tun, dieses Herz noch einmal schlagen zu hören?“, sagt Petra Lange.
Mutter wirbt für die Widerspruchslösung
Manchmal sei ihre Trauer so groß, dass sie auf Instagram über Florian schreibe. So habe sie sich mit einer anderen Mutter angefreundet. Und so habe sie von Menschen erfahren, die vergeblich auf eine lebensrettende Organspende gewartet haben.
Gibt es dennoch jemals Zweifel an ihrer Entscheidung? Petra Lange und ihre Tochter Anna schütteln die Köpfe. Und doch hätte etwas anders sein müssen, findet die 58-Jährige.
Sie wirbt für die sogenannte Widerspruchslösung, über die in Deutschland seit vielen Jahren gestritten wird. Damit wäre jeder ein potenzieller Organspender, wenn er dem nicht zu Lebzeiten widersprochen hat. Befürworter wollen so erreichen, dass sich mehr Menschen mit dem Thema Organspende auseinandersetzen. Für Petra Lange geht es noch um etwas anderes: „Für mich wäre mit der Widerspruchslösung auch der allerkleinste Zweifel ausgeräumt gewesen.“
Hinweis der Redaktion: Dieser Text ist erstmals am 18. März erschienen.
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