Ruhrgebiet. Autofahrer gegen Radfahrer gegen Fußgänger: Auf der Straße wird es ruppiger. Ein Psychologe erklärt die Angriffslust. Was man dagegen tun kann.

Bochum, Sonntag, der 17. September, gegen 11.45 Uhr. Ein Auto fährt langsam vom Parkplatz des Hauptbahnhofs und rollt so weit vor, das es vorne auf dem Radweg quer steht. Es kommt ein Radfahrer mit sehr hohem Tempo, weicht aus, zeigt dem Autofahrer den Mittelfinger. Eine Überreaktion, aber vielleicht erklärbar: Regeln sind zum Befolgen da. - 100 Meter weiter fährt derselbe Radfahrer sehenden Auges über eine rote Ampel, schießt an drei älteren Damen vorbei. Und nun?

Autofahrer gegen Radfahrer gegen Fußgänger. Warum geht es so ruppig zu auf unseren Straßen? Wir treffen den Verkehrspsychologen Dr. Omar Chehadi. Wie erklärt er die Szene? „Ganz viel kommt auf den Charakter an“, sagt der 42-Jährige: „Das ist der Typ aggressiver Fahrer, der im Auto genauso fährt. Bei Aggressionen geht es nicht um Zurechtweisung, sondern ich will den anderen bestrafen, weil er meine Grenzen überschritten hat.“

Es geht immer um Tempo, Termine, Zeitdruck, Effizienz

Chehadi forscht an der Ruhr-Universität Bochum, praktiziert in Werne und ist Beisitzer im Vorstand der deutschen Verkehrspsychologen. Also, warum so ruppig? Ja, es ist voll, ja, es geht immer auch um Tempo, Termine, Zeitdruck, Effizienz, Produktivität. Es greifen Aggressionstheorien, sagt Chehadi: „Ich bin im Verkehr in einem fließenden Prozess und werde unterbrochen“: etwa durch einen langsamen Radfahrer. Oder: „Mein Revier wird von einem anderen besetzt“: etwa durch den Fußgänger auf dem Radweg.

Der Verkehrspsychologe Dr. Omar Chehadi erklärt, was in Verkehrsteilnehmern und -teilnehmerinnen vorgeht, die aggressiv werden.
Der Verkehrspsychologe Dr. Omar Chehadi erklärt, was in Verkehrsteilnehmern und -teilnehmerinnen vorgeht, die aggressiv werden. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Autofahrer und Autofahrerinnen leben heute mit dem Grundgefühl: Uns wird etwas weggenommen. Radfahrer und Radfahrerinnen stehen tendenziell als die Guten da. Das prallt aufeinander. „Jeder identifiziert sich mit dem, was er gerade tut.“ Der Psychologe erzählt ein Beispiel aus seinem eigenen Alltag: „Wenn ich mit dem Kinderwagen auf die Fahrbahn muss, weil ein Lieferwagen auf dem Gehweg steht, habe ich kein Mitleid, dass der Bote sonst viel weiter schleppen müsste.“

„Fußgänger verhalten sich freundlicher, weil sie sich sehen“

Heißt: Derselbe Mensch könne sich morgens als Autofahrer über Radfahrer ärgern, die nebeneinander fahren, und nachmittags als Radfahrer über Autos, die ihn viel zu knapp überholen. Nur wenn man beide Verkehrsmittel ausgiebig nutzt (und nicht etwa nur sonntagsfrüh radelt), „werde ich gegenüber den anderen empathischer“.

Autofahrer gegen Radfahrer gegen Fußgänger

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    Fußgänger spielen bei den Aggressionen eine untergeordnete Rolle. Weil sie nicht mit Rädern oder Reifen bewaffnet sind, weil sie langsam sind. „Fußgänger verhalten sich freundlicher, weil sie sich sehen.“ Erforscht wurde etwa, „dass Cabriofahrer sich mehr an die Regeln halten und freundlicher sind, einfach weil man sie sieht.“ In einem geschlossenen Fahrzeug, das eine gewisse Anonymität schafft, „werde ich mich fies verhalten, wenn ich fies bin“. Das ist ja wie im Internet! Viele Menschen verstünden ihr Fahrzeug auch als ihren Wohnraum: Hier hat mir keiner was zu sagen.

    Die relative Anonymität ist übrigens auch der Grund, warum diese rot oder grün blinkenden Gesichter viel besser wirken als ein Tempo-30-Schild. „Bei dem Schild können Fußgänger vielleicht den Eindruck haben, dass ich zu schnell fahre. Wenn das Gesicht rot wird, kriegen mein Fehlverhalten alle mit.“ Hätten Autos außen große Tachos, würde Geschwindigkeitsbegrenzungen besser eingehalten. Spannend!

    „Wer genug Zeit einplant, stresst nicht sich und andere“

    Ein Ärgernis für Fußgänger: Fahrradfahrer auf dem Bürgersteig.
    Ein Ärgernis für Fußgänger: Fahrradfahrer auf dem Bürgersteig. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald

    Was hilft? Da der Umbau der menschlichen Natur schon oft kläglich gescheitert ist, plädiert Chehadi für den Umbau der Straßen. „Ideal wäre, die Verkehrswege für alle drei Gruppen zu trennen.“ Das geht aber nur äußerst begrenzt. Tempo 30 in den Städten schlägt er weiter vor: „Dann würden mehr Leute das Fahrrad nehmen, und Unfälle wären weniger schwer.“ Und schließlich eine „Prävention“, die jeder leisten kann: „Wer genug Zeit einplant für die Fahrt, hat keinen Druck und stresst nicht sich und andere.“

    Zurück zuletzt zum „Typ aggressiver Fahrer“, der mit dem Mittelfinger vom Anfang: Denken wir uns eine Eskalation: Der Autofahrer verfolgt den Radfahrer, bremst ihn aus, stellt ihn. „Wenn die beiden vor Gericht landen. wird den Radfahrern oft Recht gegeben“, sagt Chehadi: „Ihr Image ist positiv, sie sind die Guten, klimabewusst, verbrennen nichts . . . Wenn ein Autofahrer BMW fährt, gilt er sofort als Raser. Anders, als hätte er einen Citroen.“