Berlin. Wir werden die Krisen abschütteln, aber anders leben. Was der bekannte Zukunftsforscher Matthias Horx erwartet – und wovor er warnt.
Nach Corona und mit dem Blick auf derzeitige Kriege, Krisen und persönliche Sorgen schauen viele eher misstrauisch auf die kommenden Jahre. Zukunftsforscher Matthias Horx hat schon viele Krisen miterlebt und setzt auf Zuversicht statt Angst. Im Interview spricht der 69-jährige Publizist über seine Jugend als Generation „Boomer“, irrationale Visionen und eine Volkskrankheit auf dem Vormarsch.
Herr Horx, „Zauber der Zukunft“ nennen Sie Ihr neues Buch. „Zauber“ klingt zuversichtlich. Gehören Sie nicht zu den vielen Menschen, die gerade mit Sorge oder sogar Angst auf nächsten Jahrzehnte schauen?
Matthias Horx: Der Zukunftsforscher beschäftigt sich mit den längerfristigen Entwicklungen, da spielen Stimmungen nich so eine große Rolle. Ich mache das seit 30 Jahren. Ich kann mich an keine Zeiten erinnern, in denen gerade in Deutschland nicht unfassbar gefürchtet und gejammert wurde und die Welt immer am Untergehen war. Sorge und Angst sind zu einer Konstante in unserer Kultur geworden, und ich möchte sozusagen darüber hinausschauen in eine Zukunft, die vielleicht ganz anders wird.
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Die Zukunft wirkte schon immer düster?
Horx: Ich bin 1955 geboren, also ein „Boomer“. Ich erinnere mich noch an die schrecklichen Turbulenzen in meiner frühen Jugend. Vietnamkrieg, Kennedy-Ermordung, die Explosion des Atomreaktors in Tschernobyl, der Kalte Krieg – die Welt war eigentlich immer schon gefährlich. Und heute sind wir in einem sehr ähnlichen Zustand wie in diesen Krisen damals. Da bekommt man schon eine gewisse erwachsene Distanz zu diesen Befürchtungen.
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Was wollen Sie mit dem Wort „Zauber“ im Titel ausdrücken?
Horx: Menschen sind Zukunftswesen. Wir sind in der Lage, uns Zukunft intensiv vorzustellen, zum Beispiel als Utopien oder Visionen. Wenn wir morgens aufstehen, denken wir schon: Wie wird der Tag? Wie wird der Urlaub? Wie geht es weiter? Dieses verzaubert sein, das kennen wir alle. Wenn wir eine Vision haben, für die wir glühen und kämpfen, dann haben wir eine andere innere Einstellung, dann strengen wir uns an. Wir wollen etwas erreichen, positiv verändern. Die Krise, die wir heute durchleben, hängt stark damit zusammen, dass viele Menschen diesen Zauber verloren haben.
„Künstliche Intelligenz wird viele Probleme gar nicht lösen können“
Sie bemängeln, dass wir oft nur noch zwei große Zukunftsbilder im Kopf haben. Beide halten Sie für falsch. Welche sind das?
Horx: Das eine ist die technische Erlösung, zum Beispiel durch künstliche Intelligenz. Das ist gerade der Über-Über-Hype. Meine These ist, dieser Hype geht genauso schief wie Social Media. Als die Computertechnologie um die Jahrtausendwende durchstartete, glaubten ja viele, dass die große Vernetzung alles lösen und alle Menschen verbinden würde. Das ist gewaltig schiefgegangen, das Netz ist heute eher eine Brutstätte von Hass, Lügen, Verleumdung und Betrug. Technologien haben oft auch unerwartete Nebenwirkungen. Dass die KI alles für uns löst, an dem wir nicht weiterkommen als Menschen, ist ja eher eine Horrorvorstellung.
Und das andere Bild?
Horx: Der Untergang der Menschheit. Nach neuesten Forschungen glauben 50 Prozent der jüngeren Europäer zwischen 18 und 30 Jahren, dass es im weitesten Sinne gar keine Zukunft gibt, dass die Menschheit zum Untergang verurteilt ist, dass der Planet durch globale Erderwärmung stirbt. Und zwischen diesem Glauben an technische Erlösung – Stichwort Elon Musk – und dem Untergangsglauben gilt es zu fühlen, zu sehen, zu forschen. Was treibt die Welt wirklich voran? Wie entsteht eigentlich Zukunft?
Sie glauben nicht an den großen Fortschritt durch künstliche Intelligenz?
Horx: Das Versprechen der KI ist ja, unter anderem radikal erhöhte Produktivität. Aber jede digitale Technik erzeugt immer auch neue Schnittstellen, die das Ganze wieder verlangsamt. Die künstliche Intelligenz wird viele Probleme gar nicht lösen können, vor allen Dingen keine zwischenmenschlichen. Diese Illusion, dass wir unsere Alten und Kranken mit Pflegerobotern pflegen werden, das ist erstens eine unmenschliche und zweitens irrationale Vision. Dass alle Leute nur noch mit Bots kommunizieren würden, wenn sie ihre Bank anrufen, das halte ich auch für einen großen Quatsch. Das heißt nicht, dass bestimmte Anwendungen der KI nicht sinnvoll sind, gerade in der Prozessteuerung oder in Umweltfragen, oder in der Forschung. Aber das ist etwas anderes als „sprechende“ KI.
Wir leben derzeit in dem, was man eine „informell-kognitive Krise“ nennen könnte. Wir wissen plötzlich nicht mehr, was Realität ist, was Information ist, was Wissen ist. Das trägt zu dieser großen Unruhe bei, die heute existiert. Wie bei allen großen Krisen wird dahinter aber das Neue entstehen.
Horx: „Wir müssen lernen, die Welt aus der Zukunft heraus zu sehen“
Die Menschen werden im Schnitt immer älter. Sind wir in Zukunft stärker selbst gefordert, aktiv etwas für eine lang anhaltende Gesundheit zu tun, statt uns auf das Gesundheitssystem zu verlassen?
Horx: Das Gesundheitssystem ist ja heute eher ein Krankheitssystem. Wir haben keine Kultur, die Gesundheit tatsächlich verbessern und gewährleisten kann. Wir wissen aus der aktuellen Forschung, dass sich ein Teil der Menschen gesünder ernährt und auch Sport treibt, aber nur eine Minderheit von vielleicht 20 Prozent. Gleichzeitig gibt es eine große Gruppe von Menschen, die verhält sich immer ungesünder. Dadurch haben wir zwar eine längere Lebenserwartung, aber keine bessere Lebensqualität. Das ist fatal. Und wir können es nur ändern, wenn wir das Gesundheitssystem proaktiv machen, im Sinne der aktiven Vorsorge.
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Woran liegt das?
Horx: Die Konsumgesellschaft zwängt die Leute immer in Richtung ungesunder Lebensweisen. Wir haben gewaltige Volkskrankheiten, die durch Konsumsüchte erzeugt worden sind. Zucker ist das bekannteste Problem. Wir haben immer noch einen Süßigkeitensektor, der größer ist als der militärische Sektor. Wenn Sie heute eine Tankstelle betreten, ist das reine Waffengewalt von schlechtesten Nahrungsmitteln. So langsam transformieren sich unsere Ernährungsgewohnheiten. Wir wissen zumindest, dass der Fleischverbrauch massiv abnimmt. Das ist auch eine ökologische Frage. Und deutlich mehr Menschen treiben Sport. Aber wir haben längst ein neues Gespenst, das die Lebensqualität mindert oder das Leben sogar verkürzt.
Was ist denn das neue Volksleiden?
Horx: Der Stress. Wir haben heute eine dermaßen beschleunigte Kultur mit unzähligen Möglichkeiten für jeden Einzelnen, in der die Leute nicht mehr zur Ruhe kommen. Als Gegentrend ist es kein Zufall, dass heute Beruhigungstechniken von Yoga über Meditation als fernöstliche Religionsformen massiv boomen. Das Zur-Ruhe-Kommen ist ein ganz großer Trend.
Sie sind auf Lesungen, halten viele Vorträge: Welche Frage vom Normalbürger hören Sie als Zukunftsforscher am häufigsten?
Horx: Die eine lautet: Wie wird die Zukunft? Die Frage kann man natürlich in dieser Pauschalität nicht beantworten. Denn es gibt verschiedene Ebenen von Zukünften: persönliche, innere und äußere, große und kleine. An der Zukunft sind wir ja auch selbst als Handelnde beteiligt, wir sind verantwortlich für sie. Unser Ansatz der Zukunftsforschung nennt sich „Humanistischer Futurismus“. Es geht darum, dass Menschen, Gemeinschaften, Unternehmen, ihre Beziehung zur Zukunft finden und aktiv gestalten können.
Und die andere Frage?
Horx: Wann hört das wieder auf? Wann sind diese Krisen vorbei? Und da kann ich nur sagen: Sie sind nie vorbei. Denn die Krisen sind nur Anzeichen dafür, dass bestimmte Systeme, ökonomische, ökologische, mentale und politische, nicht mehr funktionieren. Krisen lösen sich auf, wenn wir sie nicht mehr als Krisen wahrnehmen, sondern als Herausforderungen für Wandel. Wir müssen lernen, die Welt mit anderen Augen zu sehen, nämlich aus der Zukunft heraus. Das ist der eigentliche Zauber der Zukunft.