Berlin. Eltern fürchten sich zu Recht vor Langeweile bei ihren Kindern: Neue Studien belegen ihre Gefahr für die kindliche Entwicklung.
„Mir ist so langweilig“. Wie oft kommen diese vier Worte aus dem Mund eines Kindes? Viel zu oft fürchten viele Eltern. Denn kaum ein anderer Satz setzt Mütter und Väter so unter Druck wie die Mitteilung des Kindes, dass es gerade absolut nichts mit sich anzufangen weiß. Sie fühlen sich entweder verpflichtet, ständig für Unterhaltung zu sorgen, oder sie haben Angst, dass ihr Kind nie lernt, sich selbst zu beschäftigen.
Aber was ist nun richtig? Helfen oder die Langeweile alleine bewältigen lassen? Neue Studie geben Antworten, die bisherige Annahmen über Langeweile infrage stellen.
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Die Annahme, Kinder bräuchten Langeweile, ist ein Mythos
In der Vergangenheit hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass Langeweile eine starke Antriebskraft für menschliches Verhalten ist: „Sie entsteht, wenn wir Dinge tun, die uns nicht angenehm oder befriedigend erscheinen, und sie drängt uns, etwas anderes zu tun“, wird der Philosoph Andreas Elpidorou in dem Buch „How to Be Bored, and What You Can Learn From It“ von Melinda Wenner Moyer zitiert.
Langeweile drängt uns also dazu, etwas anderes zu tun – und kann so als Motor für Kreativität und Problemlösung fungieren. Eine Studie der University of California belegt das: Die Forscher ließen 145 Studentinnen und Studenten zunächst ungewöhnliche Verwendungsmöglichkeiten für Alltagsgegenstände auflisten. Danach wurden sie in vier Gruppen aufgeteilt: Eine Gruppe arbeitete weiter, eine ruhte sich aus, eine löste eine schwierige Aufgabe und eine bekam eine langweilige Aufgabe. Es zeigte sich, dass die Teilnehmer, die eine langweilige Aufgabe zu lösen hatten, anschließend kreativere Lösungen fanden als ihre weniger gelangweilten Kollegen.
Dieser Effekt lässt sich auch bei Kindern beobachten. In einer interdisziplinären Fallstudie wurde untersucht, wie digitale Technologien das Verhalten und Lernen von Vorschulkindern beeinflussen. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie sich das Abschweifen der Gedanken eines Kindes auf die Nutzung eines iPads auswirkt, wenn es frei mit dem Gerät interagieren kann. Die Ergebnisse zeigten, dass negative Emotionen wie Langeweile, Ablenkung und Verwirrung in Kombination mit Aufmerksamkeit und Ausdauer zu positiven Gedankenwanderungen und Lernergebnissen führten. Die allgemeine Forderung lautet daher: Langeweile bei Kindern zulassen!
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Doch die neue Aufmerksamkeit, die aus dem unangenehmen Zustand der Langeweile erwächst, muss nicht immer positiv sein. In einer amerikanischen Studie aus dem Jahr 2014 mussten gelangweilte Personen 14 Minuten lang in einem leeren Raum ausharren. Zur Überraschung der Forscher verabreichten sich 12 von 18 Männern und sechs von 24 Frauen lieber unangenehme Stromstöße, als sich der quälenden Langeweile zu stellen.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine US-Studie, in der 48 diagnostizierte pathologische Glücksspieler und eine Kontrollgruppe von 40 Hausarztpatienten untersucht wurden. Es zeigte sich, dass pathologische Glücksspieler die Stimulation im Glücksspiel suchen, um unangenehme, untererregte Zustände der Langeweile zu reduzieren.
Temporäre versus chronische Langeweile
Inzwischen unterscheidet die Forschung zwischen „situativer Langeweile“ (State Boredom), wie sie etwa in einer Schulstunde oder während einer langen Autofahrt auftreten kann, und „chronischer Langeweile“ (Trait Boredom), einem Persönlichkeitsmerkmal, das die Häufigkeit und Intensität des Gefühls der Langeweile beeinflusst.
Diese im Charakter verankerte Form der chronischen Langeweile kann langfristig verheerende Folgen haben: Zahlreiche Studien bringen sie mit Depressionen, Angststörungen, Essstörungen und verschiedenen Formen von Suchtverhalten in Verbindung. Beobachtungen aus den USA zeigen beispielsweise, dass Jugendliche, die sich häufig langweilen, 50 Prozent häufiger rauchen, Alkohol trinken oder illegale Drogen konsumieren als ihre Altersgenossen.
Und auch für das Nervensystem kann Langeweile gefährlich sein. Das Deutsche Ärzteblatt schreibt auf seiner Website, dass Langeweile viel Stress im Nervensystem erzeugt. Denn sie bedeute Abkopplung – und wer sich von seiner Umwelt abkoppelt, wird unsicher. Betroffene nehmen weniger wahr, was um sie herum passiert, und werden dadurch anfälliger für Schäden.
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Langeweile: Neue Erkenntnisse der Kindheitsforschung
Bisher wurde chronische Langeweile vor allem bei Jugendlichen und Erwachsenen untersucht. Eine Studie, die im Juli 2024 im „Journal of Experimental Child Psychology“ veröffentlicht wurde, hat nun erstmals vier- bis sechsjährige Kinder unter die Lupe genommen. Die Forscher Anderson und Perone von der Washington State University fanden heraus, dass Langeweile bereits in diesem Alter als Persönlichkeitsmerkmal auftreten kann. Betroffene Kinder haben oft ein geringeres Repertoire an Strategien und Schwierigkeiten, Langeweile eigenständig zu bewältigen. Aufmerksame und einfühlsame Eltern sollten gerade solchen Kindern helfen, die aufgrund ihrer Veranlagung zur Langeweile in besonderem Maße von leeren Stunden überfordert sind.
Auch zwei japanische Forscher, Izumi Uehara und Yuji Ikegaya, untersuchen derzeit chronische Langeweile bei Kindern. Ihre ersten Ergebnisse, die im Mai 2024 in „EMBO Reports“ veröffentlicht werden, deuten darauf hin, dass Langeweile als Persönlichkeitsmerkmal teilweise angeboren ist. Menschen mit einer Neigung zur Langeweile können sich demnach weniger gut auf eine Aufgabe konzentrieren und zeigen auch mehr ADHS-Symptome. Sie betonen aber auch, dass der Erziehungsstil der Eltern wahrscheinlich dazu beiträgt, wie gut Kinder lernen, mit Langeweile umzugehen.
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Langeweile bei Kindern: Was Eltern tun können
Anstatt in eines der beiden Extreme zu verfallen – entweder jede Minute mit Unterhaltung zu füllen oder Langeweile ständig zuzulassen – sollten Eltern nach Ansicht mehrerer führender Psychologen einen Mittelweg finden. So betont Erin Westgate, Assistenzprofessorin für Psychologie an der Universität Florida, in ihrer Studie „Why Boredom Is Interesting“, dass moderate Langeweile wertvolle Lernmöglichkeiten bieten kann, die Kreativität und Problemlösung fördern.
Gleichzeitig warnt sie, dass Eltern nicht erwarten sollten, dass Kinder instinktiv wissen, wie sie mit Langeweile umgehen sollen. Besser sei es, ihre Kinder an Aktivitäten zu erinnern, die ihnen Spaß machen oder sinnvoll sind. Auf diese Weise könnten Eltern ihre Kinder unterstützen, ohne ihnen alle Lösungen vorzugeben.