Berlin. Anna Butterbrod kaute Jahrzehnte lang ihre Nägel. Nichts half. Erst mit einer Selbsthilfetechnik schaffte sie es endlich aufzuhören.

Anna Butterbrod

„Du hast echt schöne Hände“, sagte eine Freundin kürzlich bei einem Glas Wein zu mir. Reflexartig versteckte ich sie unter dem Tisch. So habe ich es mir über Jahrzehnte angewöhnt. Für meine Hände habe ich mich schon immer geschämt. Seit der Schulzeit kaute ich Nägel – so lange, bis ich blutete. Wenn ich nervös, gestresst oder gelangweilt war, bei Angst oder Kummer.

Es gibt jede Menge Tipps und Mittel, die bei diesem Problem helfen sollen. Ich las Ratgeber, pinselte bittere Lösungen auf, zog zu Hause dünne Baumwollhandschuhe an. Später lud ich mir eine Motivations-App runter, setzte auf künstliche Gel-Krallen. Manches half eine Weile – dann kam ein Rückfall, und das Drama ging von vorn los. 

Ich verbarg mein Laster unter langen Ärmeln oder stand mit verschränkten Armen da. Manche peinlichen Momente ließen sich nicht vermeiden: wenn ich zum Beispiel eine Coladose öffnen wollte, was ohne Fingernägel verdammt schwierig ist. Letztes Jahr war ich so wütend auf mich selbst, dass ich einen neuen Versuch wagte.

Nägelkauen: So kann die „Entkopplungsmethode“ helfen

Bei einer Online-Recherche stieß ich auf die „Entkopplungsmethode“ der Uniklinik Hamburg-Eppendorf. Mit dieser Selbsthilfetechnik könne ein Fehlverhalten langsam verlernt und gelöscht werden, hieß es. Ich bestellte mir die kostenlose Anleitung, und es klang märchenhaft einfach: die Hände wie gewohnt zum Mund führen, sie dann aber ruckartig woandershin steuern – ich wählte meine Schultern. Das bewusste Umlenken löste bei mir zunächst auch eine bewusste Wahrnehmung aus. Ich kaute nicht mehr, ohne es zu registrieren. Diszipliniert wendete ich die Technik jedes Mal an, wenn ich den Drang dazu verspürte.

Nägelkauen – Onychophagie

Ursachen 

Unter Onychophagie, so der Fachbegriff fürs Nägelkauen, leiden schätzungsweise zehn bis 15 Prozent der erwachsenen Deutschen, bei Kindern sind es bis zu 40 Prozent. „Nägelkauen ist wie ein Blitzableiter für Stress, zunächst harmlos und entsprechend häufig bei Menschen“, sagt Neuropsychologe Prof. Dr. Steffen Moritz vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). „Es kann aber chronisch werden, bis irgendwann die Nägel verkümmern.“ 

Behandlung 

Die sogenannte Entkopplungsbehandlung von Prof. Dr. Steffen Moritz legt einen neuen Verhaltenspfad an. Ein schädlicher Bewegungsablauf wird durch eine Alternative ersetzt. Man kann über clinical-neuropsychology.de eine schriftliche Anleitung anfordern. Sie ist kostenlos, aber das UKE freut sich über eine kleine Spende. Mit diesem Geld werden unter anderem Selbsthilfevideos finanziert, wie das zur Entkopplung und ihrer Wirkung (tricks-gegen-ticks.de). 

Und es war wirklich wie ein Wunder: Nach so vielen gescheiterten Stopp-Versuchen war der alte Automatismus dank dieser „Umprogrammierung“ nach nur einer Woche gebrochen. Ich hatte das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, meinen lästigen Tick im Griff zu haben. Und nach kurzer Zeit verschwand er völlig! Meine Nägel wuchsen – und mein Selbstbewusstsein ebenfalls. 

Mittlerweile kaue ich seit anderthalb Jahren nicht mehr. Droht ein Rückfall, greife ich auf die Hamburger Methode zurück. Inzwischen habe ich die Nägel, die ich mir immer gewünscht habe. Aber an Komplimente muss ich mich immer noch gewöhnen! 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift „Donna“, die wie diese Redaktion zur FUNKE Mediengruppe gehört.