Berlin. In der ersten „psychedelischen Tagesklinik“ Europas werden Depressionen mit Drogen therapiert. Eine Patientin berichtet von den Trips.
Noch riecht man den frischen Anstrich, noch muss die große Küche mit Leben gefüllt werden. Doch ab Februar schon sollen hier, im vierten Stock eines Neubaus in Berlin-Friedrichshain, 16 Patienten mit Depressionen in einer „psychedelischen Tagesklinik“ ein und aus gehen, die unter ärztlicher Anleitung rauschhafte Zustände erleben. Dass die Praxis keinesfalls einem Drogen-Klub ähnelt, versteht sich von selbst. Hier wirkt alles so klassisch wie bodenständig: schöne Bilder an den Wänden, viel Holzoptik.
Etwa 350 Millionen Menschen leben weltweit mit einer Depression. Schätzungen der WeltgesundheitsorganisationWHO zufolge wird aber nur jeder vierte Betroffene angemessen behandelt. Die Therapie mit bewusstseinserweiternden Drogen wie Ketamin soll Betroffenen neue Optionen bieten.
Klinik therapiert Depressionen mit Drogen: Das steckt hinter dem Konzept
„Wir eröffnen jetzt die erste psychedelische Tagesklinik Europas“, sagt Andrea Jungaberle, Fachärztin für Anästhesie und Notfallmedizin sowie medizinische Psychotherapeutin in Weiterbildung. Seit etwa drei Jahren wird in der bereits bestehenden ambulanten Ovid Clinic Berlin mit psychedelischen Substanzen – in legalem Rahmen, versteht sich – gearbeitet. Etwa 400 Patientinnen und Patienten mit diagnostizierter Depression wurden bisher in etwa 2000 Sitzungen behandelt.
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Jetzt kommt die Tagesklinik hinzu, in der Betroffene über mehrere Wochen engmaschig betreut werden können. Ein Baustein der Therapie ist zum Beispiel der Einsatz des Narkosemittels Ketamin. Flankiert werde der Prozess durch die Betreuung psychiatrischer Fachärzte.
Einzel- und Gruppentherapie, Musik- und Maltherapie gehörten als weitere wesentliche Teile dazu. Diese sogenannte „Augmentierte Psychotherapie meint letztendlich Psychotherapie plus“, so Jungaberle, die gemeinsam mit drei Fachärzten aus dem Bereich Psychiatrie und Psychotherapie depressive Menschen in der neuen Tagesklinik betreut.
Party-Droge per Infusion: Das passiert im Körper
Was aber passiert genau bei der Gabe von Ketamin? Das Narkosemittel, das bereits als illegale Party-Droge in den Fokus geriet, werde hier als Infusion verabreicht, so Jungaberle. Die Substanz gelange dadurch gesteuert und langsam in die Venen.
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Die Infusion laufe insgesamt 45 Minuten, erklärt die Ärztin. Der Therapeut ist dabei die ganze Zeit anwesend. Per EKG wird die Herzfrequenz überwacht. Mit Wärmedecke und Schlafmaske soll eine ruhige Atmosphäre erzeugt werden. Auch Musik wird gespielt. Dann kann es losgehen.
Wer sich jetzt vorstellt, dass der Patient im Rauschzustand durch die Praxis schwebt, liegt falsch: Es gehe mehr um innere Vorgänge, so Jungaberle. „Wir erleben oft, dass die Patienten starke Emotionen durchmachen. Manchmal sind sogar die Augenmasken danach komplett durchgeheult. Oder aber wir hören Patienten schallend lachen. Da kann alles passieren.“ Die Wirkung des Narkosemittels sei etwa eine Stunde lang spürbar.
Patientin berichtet: Das passierte, als ich Ketamin bekam
Bei Anna K. (41) aus der Pfalz, die lange und erfolglos Therapien mit Psychopharmaka und Psychotherapie hinter sich hatte, passierte bei der ersten Ketamingabe erst einmal gar nichts. „Ich bin sogar wütend aufgewacht“, sagt sie. Sie habe gedacht, dass wohl alles nichts helfe. Doch dieses Gefühl änderte sich schnell. Bei den drei weiteren Ketamingaben spürte sie eine Menge. Es habe sich bei ihr dadurch ein Gefühl „neuer Freiheit“ und „Offenheit“ eingestellt.
Diese Freiheit sei für sie der entscheidende Faktor gewesen, dass sie einen neuen Blick auf sich und ihre psychische Situation richten konnte. Dadurch habe sie erkannt, woher ihr Problem rührte, nur schlecht tiefe Kontakte zu anderen Menschen aufbauen zu können. Sie spürte auf einmal tief verschüttet Versagensängste und die Angst, von anderen abgelehnt zu werden. Ein Ansatzpunkt für die begleitende Psychotherapie.
Das Ketamin habe ihr geholfen, festgefahrene Denkstrukturen zu überwinden und viel sensibler für die eigene Wahrnehmung zu werden. So konnte sie Ansatzpunkte finden, neu zu handeln. Es käme unter Ketamin allerdings viel ins Rollen, sagt sie. Und zwar mit großer Wucht, die nicht zu unterschätzen sei. „Man sollte besser ein paar Wochen lang keine weitreichenden Entscheidungen treffen, nicht heiraten oder ein Haus kaufen“, sagt Anna K. lachend.
Ketamin-Therapie: So läuft es mit der Kostenübernahme
Da die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten von 5000 bis 6000 Euro nicht übernehmen, hat sie die ambulante Ketamin-Therapie privat bezahlt. Ihr geht es mittlerweile sehr gut, sagt sie. Anna K. braucht keine Psychopharmaka mehr. In der Tagesklinik übernehmen jetzt zumindest die Privatkassen die Therapiekosten, so Jungaberle.
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Der Einsatz von Ketamin in der Behandlung von Depressionen gilt wissenschaftlich durch viele Studien als untermauert. So sei belegt, sagt Jungaberle, dass sich im Gegensatz zu gängigen Antidepressiva schon nach der ersten Anwendung erste therapeutischen Effekte zeigen könnten. Viele übliche Medikamente wirkten hingegen erst nach einigen Tagen bis Wochen.
Zudem wisse man, dass Ketamin die Kommunikation der Nervenzellen verbessern kann, weil es zu einer Neuvernetzung der Hirnzellen kommt, so die Ärztin. Aber es passiere noch viel mehr. Während der Ketamingabe durchliefen die Patienten „Erkenntnisprozesse“, betont Jungaberle. Ein ganz neuer Blick auf das eigene Ich sei möglich. Diese Erkenntnisse verpufften nicht, sondern würden dann mit in die Therapie hinübergenommen.
Häufig seien Depressionen auch Begleiterscheinungen von Krankheiten wie Parkinson oder ADHS oder kämen auch in Zusammenhang mit hormonellen Veränderungen vor. Zum Beispiel bei Frauen, die unter einer Extremform des Prämenstruellen Syndroms (PMS) leiden. Die Kombination der Symptome aus Depressivität, Gereiztheit, Angstzuständen, Stimmungsschwankungen, Kopfschmerzen oder Übelkeit könnten psychisch extrem belastend sein, erklärt Jungaberle.
Junge Frau mit extremem PMS: Depression bis hin zu Suizidgedanken
Die Ärztin erinnert sich an eine junge Patientin, die aufgrund von PMS suizidale Gedanken aufwies. Zu wissen, dass sie jeden Monat immer wieder in diese Situation geraten würde, habe sie nicht mehr aushalten wollen. Durch die Ketamin-Therapie habe sich ihr Zustand aber schnell verändert. „Nach 15 Jahren ist sie nun erstmals anhaltend von den quälenden Gedanken befreit“, so die Medizinerin.
Was war passiert? Die Patientin sei in der Sitzung mit „ihren tiefen Gefühlen von Minderwertigkeit und Schutzlosigkeit in Kontakt gekommen, die sich biografisch an ihre Rolle als Frau in ihrer Familien knüpften“, beschreibt es Jungaberle. Die Regelblutung sei eine Art Manifestation ihrer Rolle gewesen. „Die Einsicht in die emotionale Aufladung ihrer Körpervorgänge ermöglichte ihr, einen neuen Umgang mit sich selbst und ihrer Identität als Frau zu erarbeiten.“ Eine Erkenntnis, die entscheidend gewesen sei für die begleitende Psychotherapie und die Genesung.
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