Berlin. Jung, erfolgreich, alkoholkrank. Vlada Mättig konnte sich ihre Sucht viele Jahre nicht eingestehen. Selbst ihre Liebsten ahnten nichts.
Lisa Frieda Cossham
Sie ist 32, als sie beginnt, ihr bisheriges Leben wie die Scherben eines Kruges zusammenzusetzen. Stellt Fragen. Spürt Gefühlen nach, Gedanken. Und so erinnert sie sich auch an den Lunch in der asiatischen Schnellküche, ungefähr zwei Jahre bevor ihr Leben zerbricht. Sie sieht sich dort zwischen ihren Freundinnen sitzen, dann ihre plötzlich zitternden Hände. Die Gabel, die sie nur mit großer Selbstbeherrschung ruhig zum Mund führen kann.
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Wie sie über sich erschrickt und es später einem Freund schildert. Eine unruhige Hand nach einer durchfeierten Nacht, passiert das nicht jedem mal, beruhigt er. Vlada Mättig ist dankbar für die Antwort. Sie ahnt, dass sie ein Alkoholproblem hat, verdrängt es aber, trinkt sich durch die Berliner Nächte, beobachtet manchmal andere auf den Tanzflächen der Clubs und sagt sich, dass sie wie diese anderen ist. Bisschen drüber vielleicht, aber nicht . Es gibt ja auch Tage ohne dieses Zittern.
Alkoholsucht: Betroffene trinkt sogar bei der Arbeit
Diese Tage nehmen ab. Dafür nimmt die Unruhe zu. Zu ihrer „schlimmsten Zeit“ – so nennt Vlada Mättig das Jahr 2017 – trinkt sie morgens eine Flasche Weißwein auf leeren Magen. Der Alkohol beruhigt sie, lässt sie funktionieren, stellt das Zittern ab und macht sie selbstbewusst.
Anfang 30 ist sie da, arbeitet als Bookerin bei einer Modelagentur. Jeden Morgen erscheint sie im Büro, egal, wie kurz die Nacht war. Damit niemand ihre Fahne riecht, hält sie Distanz zu Kolleginnen und Kollegen. Hält die Luft an oder atmet in eine andere Richtung, wenn ihr jemand etwas am Bildschirm zeigt. In der Mittagspause kauft sie sich Piccolo-Sekt, die Flaschen passen bequem in ihren Rucksack.
Vom Alkohol gezeichnet – trotzdem bleibt die Sucht unbemerkt
Wenn sie sich mit Freunden in einer Bar verabredet, trinkt sie vor, um zu verbergen, dass sie mehr Alkohol braucht als die anderen. Sie trinkt auf dem Heimweg, trinkt, bevor ihr Freund nach Hause kommt. Beim Kochen schenkt sie sich ein Glas Wein ein. Es ist so unauffällig wie der Alkohol auf den Veranstaltungen, bei denen Trinken gesellschaftlich erwünscht ist.
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„Habt ihr nichts bemerkt?“, wird sie Freundinnen und Kolleginnen nach ihrem Entzug fragen. „Nein“, antworten die, „absolut nichts.“ Dabei ist Vlada Mättigs Körper da schon vom Alkohol gezeichnet. Gesicht und Hände sind aufgequollen. Einen Burnout vermutet ihre damalige Chefin. Vielleicht Liebeskummer? Die Alkoholsucht erkennt niemand. „Ich war eine funktionierende trinkende Frau“, sagt Vlada Mättig.
Ex-Alkoholabhängige: Sucht ist ein schleichender Prozess
Sie funktioniert schon als Mädchen, hat gute Noten, singt im Chor und reitet. Ein „Vorzeigekind“, erinnert sich die 37-Jährige. Wann es begonnen hat und warum – diese oft gestellten Fragen kann sie nicht wirklich beantworten, „Sucht ist ein schleichender Prozess“. Schon als Teenager verträgt sie viel, muss sich nie übergeben. Ein Mädchen mit gutem Abitur, das Wirtschaftswissenschaften studiert und sich ins Studentenleben stürzt.
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Oft ist sie betrunken, aber die anderen sind es auch. Feiern sie nicht alle die freieste Zeit ihres Lebens? Nach dem Bachelor arbeitet Vlada Mättig als Au-pair in Paris. Wenn sie nicht ausgeht, trinkt sie allein zu Hause. Schon schräg, denkt sie, doch als Süchtige erlebt sie sich nicht. Noch nicht. Sie kennt Sucht. Mindestens zwei ihrer Verwandten sind alkoholabhängig. Mehr will sie dazu nicht sagen. Alkohol belastet ihre Vergangenheit. Die Gegenwart soll er nicht berühren.
Experte zu Alkoholmissbrauch: Diese Gruppe ist besonders gefährdet
Wie andere Alkoholabhängige klammert sie sich lange an die Idee, Süchtige würden auffallen. Dabei wissen Suchtforscher, dass gerade Frauen aus der Mitte der Gesellschaft zu Alkoholmissbrauch neigen: Ärztinnen, Anwältinnen, Künstlerinnen, Mütter. Oft dauert es lange, bis sie sich die Abhängigkeit eingestehen, um Hilfe zu suchen. „Ich dachte, ich gehöre nicht in eine Beratung“, sagt Vlada Mättig, „weil die Leute da die Kontrolle verloren haben und auch so aussehen.“
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Nach zehn Jahren Abhängigkeit ist es am Ende die Angst, die Vlada Mättig verrät. Tagelang verschanzt sie sich zu Hause. Einmal muss eine Freundin sie wegen der Angstzustände in die Klinik begleiten, wo man 3,1 Promille im Blut misst – nicht süchtige Menschen kippen bei diesem Wert um. Vlada Mättig ist nichts anzumerken, die Freundin wagt keine Diagnose.
Kurz darauf zerbricht die Beziehung zu ihrem Freund. Auch wenn die Abhängigkeit nicht der Auslöser ist: Die Sucht ist allgegenwärtig. Als die Absage für einen Job kommt, verliert Vlada Mättig den Halt. Sie ruft ihre Eltern an, die sie abholen und nach Hause bringen sollen, nach Zittau in Sachsen. Die Clubs hinter sich lassen, sich der inneren Leere stellen. Ihr Vater spricht aus, was sie längst weiß: Sie trinkt zu viel.
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Therapien helfen beim Durchbrechen der Suchtmuster
Jahrelang hat sie es verdrängt, um keine Konsequenzen ziehen zu müssen. Das ist nun vorbei. Mit 32 Jahren macht sie nahe Zittau einen Entzug, wird rückfällig, landet im Krankenhaus, entscheidet sich für eine Langzeittherapie. Gehört sie jetzt zu den Gescheiterten, fragt sie sich, als sie in der Klinik in Leipzig eincheckt. Vlada Mättig fremdelt mit den Patienten – Menschen, denen sie in ihrem Berliner Leben nie begegnet wäre. Doch ihre Geschichten berühren sie: „Wir haben alle bestimmte Erfahrungen gemacht, Muster entwickelt, damit umzugehen. Darin gleichen wir uns.“
Während der sechs Monate in der Klinik lernt sie, eine Beziehung zu sich aufzubauen. Versteht, warum sie glaubte, trinken zu müssen, und wie sie Suchtmuster durchbrechen kann. Wenn sich Vlada Mättig unter Druck gesetzt fühlt, sagt sie es jetzt. Sie benennt Gefühle, die sie früher weggetrunken hat. Eine Zeit wie ein Geschenk, das die Vlada von früher wachruft. Eine Frau, die Wünsche und Visionen hatte und die sie heute wieder ist.
Im Sommer wird sich Vlada Mättig einen Traum erfüllen. Ein Retreat am Gardasee, bei dem sie mit Pferden arbeitet, Yoga unterrichtet und als Coach Menschen unterstützt, nüchtern zu werden. Menschen, wie sie selbst mal einer war.