Pompeji/Berlin. Gabriel Zuchtriegel forscht in der antiken Stadt Pompeji. Hier erklärt er, was die dortigen Entdeckungen für unser Leben bedeuten.
Die antike Stadt Pompeji am Fuß des Vesuvs gilt in der Archäologie als einmalig. Die im Jahr 79 beim Ausbruch des Vulkans verschüttete Stadt im Süden Italiens gibt Forschern einen unvergleichlichen Einblick in das Leben im römischen Kaiserreich. Immer wieder gibt es neue Funde: zuletzt eine Großküche, in der pizzaähnliches Fastfood zubereitet wurde; dazu Nachweise von Ratten in den Behausungen der untersten gesellschaftlichen Schicht, der Sklaven. Auf der anderen Seite stehen ein großer Luxus und eine verbreitete Dekadenz im Leben der Elite. Seit etwas mehr als zwei Jahren leitet der deutsche Archäologe Gabriel Zuchtriegel den Archäologischen Park Pompeji. Ein Gespräch über Naturkatastrophen, Menschenrechte und Erotik sowie Geschichte und Archäologie als Grundlagen für unsere zivilisatorischen Errungenschaften.
Herr Zuchtriegel, wenn man sich die Funde vor Augen führt, die Sie zuletzt präsentiert haben, könnte man meinen, dass sich das Leben der Menschen seit 2000 Jahren gar nicht großartig verändert hat. Was sagt uns Pompeji über unser heutiges Leben?
Gabriel Zuchtriegel: Ja, das stimmt. Aber was ganz hilfreich ist, sich klar zu machen, wie es eigentlich ohne Pompeji wäre. Was wüssten wir da? Was wäre unser Bild der römischen Welt und dann natürlich auch der Vergangenheit allgemein? Wenn wir keine Archäologie hätten, also diese Technik nicht kultiviert hätten, materielle Hinterlassenschaften zu erschließen, zu interpretieren und in einen wissenschaftlichen Kontext zu stellen. Wie wäre das? Und dann, denke ich, müsste man schon ehrlich antworten: sicherlich ganz anders. Mit viel weniger Tiefe und weniger Vielfalt.
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Was bedeutet Archäologie für Sie?
Zuchtriegel: Für mich ist Archäologie eine Art Anthropologie, also eine Wissenschaft über das Leben und die Kultur der Menschen im weitesten Sinne. Es geht nicht darum, auf eine klassische Hochzeit zurückzublicken und sie zu verehren oder sich sogar zum Vorbild zu nehmen, wie das zur Zeit der Gründerväter der klassischen Archäologie Mitte des 18. Jahrhunderts vielleicht war. Sondern es geht darum, sich die Veränderbarkeit des menschlichen Daseins klarzumachen in einer Welt, die durch die Globalisierung immer einheitlicher, immer homogener wird. Wir sehen dabei, wie stark sich das menschliche Dasein verändert, und trotzdem stellen wir bestimmte Konstanten fest.
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Archäologe: Die Antike war eine ganz fremde, ganz andere Welt
Worin bestehen solche Konstanten?
Zuchtriegel: Zum Beispiel benutzten die antiken Menschen manchmal Begriffe, die uns vertraut erscheinen, weil wir sie übernommen haben: Demokratie oder Mathematik oder auch die Vorstellung von Bürgerrechten. Aber auf der anderen Seite sieht man, dass es eine ganz fremde, ganz andere Welt war. Denken Sie zum Beispiel an die Sklaverei. Das aufklärerische Denken, die Idee der Rechte und später der universellen Menschenrechte haben ja antike Wurzeln. Dieses Gedankengut ist aber entstanden in einer Gesellschaft, die es ganz normal gefunden hat, dass manche Menschen der Besitz von anderen sind.
Begriffe wie Bürgerrechte und Demokratie hatten damals ja durchaus eine andere Bedeutung als heute.
Zuchtriegel: Genau. Aber auch Dinge wie zum Beispiel Intimität, Familie und Liebe. Natürlich kann man das erstmal 1:1 übersetzen, aber wenn man sich dann anguckt, wie das funktioniert hat und wie das eingebettet war in die Alltagswelt, dann ist es oft ganz anders. Und das finde ich eigentlich gerade das Interessante. Ich glaub Pompeji sagt uns nicht so viel, weil wir uns da irgendwie selbst wiederfinden können nach dem Motto: Das war ja schon immer so. Sondern dass wir etwas ganz anderes wiederfinden, was aber auch auf eine Art wir selbst sind, was unsere Vergangenheit ist – vor allem natürlich als Europäer, die wir alle irgendwie vom römischen Reich beeinflusst sind. Ein Beispiel ist die Verbreitung des Christentums, die ohne das römische Reich und ohne die Einheit der Sprache und die Infrastruktur in der Form gar nicht denkbar gewesen wäre.
Sie sprachen gerade auch die heutige Globalisierung an: Das Römische Reich war ja auch eine Art Globalisierung. Und somit auch ein Beispiel dafür, dass Prozesse einer Globalisierung scheitern können. Was ist das Römische Reich also für uns heute: abstraktes Vorbild? Oder sind wir lediglich das unvermeidbare Resultat der Geschichte?
Zuchtriegel: Ich denke, in der Idee, das irgendwas abgeschlossen ist und wir es ad acta legen können, verbirgt sich eine gewisse Selbstüberschätzung oder Arroganz der Gegenwart. Es ist wie ein Blatt, das auf der Wasseroberfläche schwimmt. Und für diese Wasseroberfläche, auf der es schwimmt, also sprich unsere Gegenwart, braucht es das ganze Wasser da unten eigentlich gar nicht. Aber diese Oberfläche existiert in der Form nur, weil es drunter eben viele Meter Wasser gibt. Die Geschichte, so wie sie verlaufen ist, und alles, was wir heute erleben, ist auf eine Weise das Resultat von 13 Milliarden Jahren seit dem Urknall, könnte man sagen. Aber natürlich dann nochmal speziell der letzten paar 1000 Jahre.
Pompeji war in jeder Hinsicht eine Überraschung
Wir leben also in einem kollektiven Weltgedächtnis. Was bedeutet Pompeji vor dem Hintergrund?
Zuchtriegel: Bei Entdeckung und den ersten Ausgrabungen 1748 war Pompeji natürlich eine Überraschung in jeder Hinsicht. Bis dahin kannte man die Antike ja nur durch Texte und die großen Monumente zum Beispiel in Rom: Tempel, Paläste, Grabmonumente. Die Dimension des Alltagslebens fehlte völlig. Und auf der einen Seite war es natürlich schockierend für die damalige Zeit, diese teils vulgären Inschriften und manchmal auch prekären Lebensbedingungen zu sehen. Auf der anderen Seite stand die Kunst in den Häusern und die Häuser selbst, die so reich ausgeschmückt waren. Jedes Haus war ein kleiner Palast. Insofern ist man sich kollektivpsychologisch bewusst geworden, dass das hehre Altertum auch seine ganz banalen Sorgen und Streitigkeiten, obszönen Beleidigungen sowie zwiespältige Läden und schmutzigen Gassen hatte. Aber überhaupt die Tatsache, dass die Römer auch einen Sinn fürs Alltägliche hatten, faszinierte die Menschen. Und dazu kam die Erotik, der Umgang mit nackten Körperbildern und die teilweise ganz expliziten Szenen in den Häusern oder in den Thermen: Das waren natürlich im 19. Jahrhundert Dinge, mit denen man gar nicht so unbefangen umgehen konnte. Da kann man sich fragen, wie ist es heute? Und das sagt dann sicher auch etwas über uns.
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Die Geschichte als Spiegel. Das ist so ähnlich wie Science-Fiction-Filme gucken, die ja auch nichts anderes sind, als ein Spiegel oder ein Abbild unserer Gesellschaft.
Zuchtriegel: Genau, ja, ein Spiegel, nur in die andere Richtung.
Die Faszination der Menschen für Pompeji rührte natürlich auch daher, dass man es mit einer konkreten Naturkatastrophe mit vielen Toten zu tun hatte. Was bedeutet es für Sie, ständig so ein Katastrophenszenario zu durchwandern?
Zuchtriegel: Ja, das ist so eine Doppeldeutigkeit, die Pompeji eigentlich immer ausgezeichnet hat. Goethe sagte, dass keine andere Katastrophe der Nachwelt so viel Freude bereitet hat wie Pompeji. Das ist ein Thema, das allgegenwärtig ist und immer wieder bei neuen Grabungen ins Bewusstsein gebracht wird, wenn Opfer des Vulkanausbruchs ans Licht kommen. Manchmal finden wir nur Körperabdrücke in der hart gewordenen Asche. Die Körper haben sich über die Zeit zersetzt. Und manchmal finden wir Skelette, das hängt immer von den Erhaltungsbedingungen vor Ort ab. Wir haben neulich festgestellt, dass es ja gar nicht nur der Vulkanausbruch war, also die heiße Asche des Vulkans, die die Menschen tötete. Viele Menschen sind schon vorher in einer ersten Phase gestorben, in der wegen starker Erdbeben die Häuser einstürzten.
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Wie gehen Sie mit dem Schicksal der Menschen als Wissenschaftler um?
Zuchtriegel: Vor ein paar Monaten haben wir Skelette ausgegraben, die übersät mit Brüchen waren. Die Menschen waren offenbar in der ersten Phase des Vulkanausbruchs von herabstürzenden Zwischenböden und Dächern erschlagen worden. Da standen wir dann eben da und diskutierten darüber, was das jetzt genau für den konkreten Ablauf der Katastrophe bedeutet. Und dann sagte ein Kollege den entscheidenden Satz: ,Das sind wir.‘ Diese Menschen, diese Opfer sind dann plötzlich auch wir. Die Distanz, die durch das wissenschaftliche Erforschen geschaffen und verstärkt wird, bricht manchmal ganz plötzlich zusammen. Und dann wird uns klar, Pompeji gilt gewissermaßen als Metapher für das menschliche Dasein: Es kann jederzeit zu Ende sein.