Essen. SPD-Parteivorsitzender Lars Klingbeil fordert im WAZ-Interview eine höhere Erbschaftssteuer zur Finanzierung von Schulen und Lehrerstellen.
Ausgerechnet in Zeiten des Aufruhrs im Revier bereiste SPD-Bundesvorsitzender Lars Klingbeil das Ruhrgebiet und besuchte zahlreiche Industriebetriebe. Während am vergangenen Freitag Tausende Beschäftigte in Duisburg vor den Werkstoren von Thyssenkrupp ihren Frust und ihrer Zukunftsangst lautstark Ausdruck gaben, weil sie nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts um ihre Arbeitsplätze bangen, gibt Klingbeil im Gespräch mit WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock, Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur sowie den Redakteuren Michael Kohlstadt und Christopher Onkelbach ein Bekenntnis zur Industrie ab.
Sie bereisten vier Tage lang NRW und das Ruhrgebiet – was führte sie ausgerechnet in diese Region?
Lars Klingbeil: NRW ist sehr wichtig für die SPD. Die Landespartei hat mit Sarah Philipp und Achim Post zwei starke neue Landesvorsitzende, die ich unterstützen will. Zugleich ist die Industriepolitik ein Schwerpunkt meiner politischen Arbeit. Da ist man sehr schnell beim Ruhrgebiet und der Frage: Wie stellen wir die Industrie neu und zukunftssicher auf?
Warum besuchen Sie nur Betriebe der „alten“ Industrien?
Ich habe großen Respekt vor dem, was die Kolleginnen und Kollegen in den Industrieunternehmen leisten. Das ist die Grundlage für unseren Wohlstand. Thyssenkrupp zum Beispiel ist gerade mittendrin, sich zu modernisierenund die Produktion auf grüne Energie umzustellen, da kann man nicht mehr von alter Industrie reden. Die Frage ist, wie wir es schaffen, diese Betriebe fit für die Zukunft zu machen damit sie nicht nach China oder in die USA abwandern. Ich will, dass die Modernisierung hier stattfindet. Wir kämpfen um jeden Industriearbeitsplatz in Deutschland. Und dabei kommt es auch auf den Staat an.
Was genau meinen Sie damit?
Wir haben, auch als SPD, zu lange zugelassen, dass über die alten Industrien gesagt wurde: das ist Vergangenheit. Aber das stimmt nicht. Im klimaneutralen Umbau dieser Industrien liegt eine große Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland und für die Jobs der Zukunft. Der große Wandel etwa zur Wasserstofftechnologie und zum grünen Stahl kann funktionieren mit einem Miteinander von Markt und Staat.
Wie haben Sie die Stimmung im Ruhrgebiet wahrgenommen?
Ich sehe einen großen Stolz der Menschen auf die Region, aber auch Zukunftsangst. Das wurde ja auch bei der Demo in Duisburg deutlich. Es geht um Arbeitsplätze, Investitionen, Fachkräfte und Energieumbau. China und die USA investieren derzeit viel Geld, um ihre Industrien zu stärken. Und wir müssen neu organisieren, wo wir die Milliarden dafür herbekommen. Doch das darf nicht dazu führen, dass wir aufhören, unser Land zu modernisieren. Im Ruhrgebiet gibt es wahnsinnig viel Potenzial. Wenn der Staat sich entscheidet, in zukunftsfähige Betriebe und Technologien zu investieren, sichert das viele Betriebe und Arbeitsplätze.
Die Duisburger Stahlarbeiter haben aber ganz konkret Furcht um ihre Jobs. Was sagen Sie ihnen?
Ich finde es gut, dass wir gemeinsam mit Gewerkschaften und Unternehmen überlegen, wie man den klimagerechten Umbau gestalten kann. Ich habe selbst Druck ausgeübt, dass beim Thema Strompreis Bewegung reinkommt. Die Bundesregierung hat sich auf eine Strompreis-Entlastung für die Industrie in Höhe von zwölf Milliarden Euro geeinigt, das soll fünf Jahre gelten. Dann werden wir gemeinsam beraten, ob das ausreicht. Wir können nicht zulassen, dass energieintensive Unternehmen und damit viele Tausend Jobs aus Deutschland verschwinden.
Warum haben trotzdem viele Unternehmen das Vertrauen in die Bundespolitik verloren?
Durch unnötigen internen Streit hat die Koalition viel Porzellan zerschlagen, etwa beim Heizungsgesetz oder bei der Kindergrundsicherung. Aber wir haben viele Probleme auch angepackt, was Fachkräftemangel, Einwanderung, Bürokratieabbau und schnellere Genehmigungsverfahren angeht. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist nun eine zusätzliche Bewährungsprobe. Wenn wir die bestehen, werden wir Vertrauen zurückgewinnen.
Vertrauen hat auch die SPD in NRW verloren, sie liegt in Umfragen unter 20 Prozent. Wie kommt die Partei aus dem Tief heraus?
Mit solchen Ergebnissen bin auch ich nicht glücklich. NRW ist das Stammland der Sozialdemokratie. Unser Anspruch ist, dass wir uns um die Alltagsfragen der Menschen kümmern. Damit meine ich Arbeitsplätze, bezahlbare Mieten, Mobilität, gute Bildung oder Pflege. Daher stammt auch mein Fokus auf die Industriepolitik, denn an diesen Arbeitsplätzen hängt viel. Wenn wir bei diesen Themen klar sind, kann die SPD in NRW wieder Wahlen gewinnen. Die neue NRW-Führungsspitze hat gerade angefangen. Ich bin mir sicher, dass sie sich beweisen wird.
Zu den Alltagssorgen der Menschen gehören auch marode Schulen und fehlende Lehrkräfte. Wird zu sehr an der Bildung gespart?
Bildung ist Ländersache und der Bund muss fast darum betteln, den Bundesländern Geld geben zu dürfen, etwa für die Digitalisierung der Schulen. Das ist absurd. Als SPD haben wir den Vorschlag gemacht, die Erbschaftssteuer leicht anzuheben und die zusätzlichen Einnahmen über die Länder direkt in die Bildung zu geben. Ich möchte, dass in zehn Jahren jede Schule saniert ist und wir genügend Lehrkräfte in den Schulen haben. Dazu können Mega-Erben in diesem Land mehr beitragen.
Kaum ein Thema beschäftigt die Menschen derzeit so sehr wie die Zuwanderung. Wird die Zahl der Asylsuchenden durch die Verschärfung des Asylrechts tatsächlich sinken?
Das ist ein großes Thema und eine enorme Herausforderung. Die Koalition hat dazu jetzt Maßnahmen auf den Weg gebracht. Wer hier nicht bleiben kann, muss das Land schnell wieder verlassen. Aber man muss auch die andere Seite sehen.
Was meine Sie damit?
Uns fehlen Fachkräfte! Jedes Unternehmen, das ich in den letzten Tagen besucht habe, klagt darüber. Wir müssen an unserer Willkommenskultur arbeiten. Es ist ein Irrglaube, dass gut qualifizierten Leute aus aller Welt nur darauf warten, nach Deutschland kommen zu können. Wir müssen um sie werben. Wenn wir aber den Eindruck vermitteln, dass wir im Grunde keine Einwanderung wollen, werden sie nicht zu uns kommen.
Wird Einwanderung in Deutschland zu negativ gesehen?
Ich mache mir darüber Sorgen. Gerade nach dem brutalen Terrorangriff der Hamas gegen Israel erleben wir eine enorme Polarisierung. Dazu gehört auch, dass manche von rechts die Situation ausnutzen, um Stimmung gegen arabische Mitmenschen und Muslime zu machen. Klar ist: Wer den Terror der Hamas bejubelt, wird die Konsequenzen des Rechtsstaats zu spüren bekommen. Aber was wir nicht zulassen dürfen, ist eine pauschale Verurteilung. Wir müssen gerade in schwierigen Zeiten unsere Gesellschaft zusammenhalten und dazu gehören alle, die nach unseren Werten leben und Deutschland voranbringen wollen, egal wo sie herkommen.
Kürzlich hat eine Gruppe SPD-Bundestagsabgeordneter vorgeschlagen, außerhalb der EU Migrationszentren zu errichten, wo Asylverfahren abgewickelt werden könnten. Was halten Sie davon?
Wir haben das in der Fraktion intensiv diskutiert. Uns leiten in der Migrationspolitik zwei Grundsätze: Humanität und Ordnung. Was nicht geht, ist Menschen einfach irgendwohin zu fliegen, um dort die Verfahren abzuwickeln, wie es NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) vorgeschlagen hat. Doch zu sagen, keiner muss in ein Boot steigen und sein Leben riskieren, weil sein Asylantrag in einem Land außerhalb Europas geprüft wird, halte ich für etwas, das offen diskutiert werden kann.
Arbeit muss sich lohnen, das ist ein sozialdemokratischer Leitspruch. Aber stimmt das noch? Anders gefragt: Ist das Bürgergeld nicht zu hoch?
Ich nehme die Debatte sehr ernst. Doch ich finde die Anhebung beim Bürgergeld richtig, denn das Leben ist teurer geworden. Über den Abstand niedrigen Löhnen können wir gerne reden. Aber ich finde es unredlich, Geringverdiener gegen Sozialhilfeempfänger auszuspielen. Anstatt das Existenzminimum abzusenken, müssen die Beschäftigten mehr verdienen.
>>>> Zur Person:
Lars Klingbeil (45) stammt, wie er selbst sagt, „aus bescheidenen Verhältnissen“. Er wuchs als Sohn eines Bundeswehrsoldaten und einer Einzelhandelskauffrau in Munster (Niedersachsen) auf, wo er 1998 sein Abitur machte. Anschließend studierte er Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte in Hannover. Nach dem Studium arbeitete er von 2001 bis 2003 im Wahlkreisbüro von Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Seine parlamentarische Laufbahn begann er als Ratsmitglied der Stadt Munster, dem er von 2001 bis 2016 angehörte. 2009 zog er - nach einer kurzen Episode als Nachrücker im Jahr 2005 - zum zweiten Mal in den Bundestag ein und machte in der Partei Karriere. 2017 wurde er SPD-Generalsekretär. Beim Bundesparteitag im Dezember 2021 wurde er mit 86,3 Prozent der Stimmen zum Parteivorsitzenden gewählt.
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