Athen. Viele Frauen und Mädchen leben in der Türkei gefährlich. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan trägt die Verantwortung, sagen Kritiker.
In der Türkei sind im Oktober mindestens 48 Frauen ermordet worden. Das war die höchste jemals in einem Monat gemeldete Zahl. Menschenrechtsorganisationen sehen eine Mitverantwortung der islamisch-konservativen Regierung von Staatschef Recep Tayyip Erdogan.
Es war ein Verbrechen, das die Türkei erschütterte. Am 4. Oktober tötete der 19-jährige Semih Celik innerhalb weniger Stunden zwei gleichaltrige Frauen in Istanbul. Aysenur Halil lief ihrem Mörder im Stadtteil Eyüpsultan über den Weg. Celik schnitt der jungen Frau mit einem Messer die Kehle durch. Wenig später traf er im Stadtviertel Fatih nahe dem Adrianopel-Tor an der historischen Stadtmauer auf sein zweites Opfer, die Studentin Ikbal Uzuner. Celik enthauptete sie und warf ihren Kopf von der Stadtmauer unter die Passanten. Dann stürzte er sich von dort in den Tod.
Uzuner und Halil waren nicht die einzigen Frauen, die im vergangenen Monat in der Türkei ermordet wurden. Die Organisation „Wir werden Femizide stoppen“ (Kadin Cinayetlerini Durduracagiz Platformu, KCDP) dokumentiert jeden Monat Morde an Frauen und Mädchen. Im Oktober dieses Jahres waren es 48 – die höchste jemals in einem Monat gemeldete Zahl seit Gründung der Organisation im Jahr 2010. In der Mehrzahl der Fälle waren die Täter Verwandte oder Partner: 22 Frauen wurden von ihren Ehemännern oder geschiedenen Männern ermordet, acht von ihren Partnern und sechs von Bekannten. Drei Frauen wurden von ihren Vätern getötet, vier von anderen Familienangehörigen.
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Türkei: Fiel die Frau zufällig aus dem Fenster? Zahl der Verdachtsfälle steigt
In den ersten zehn Monaten dieses Jahres dokumentierte die KCDP 343 Morde an Frauen und Mädchen. Hinzu kommen rund 200 verdächtige Todesfälle wie Fensterstürze, die von der Polizei häufig als Unfälle oder Suizide eingestuft werden. Vor allem die Zahl dieser Verdachtsfälle ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Sie hat sich seit 2017 fast verdoppelt.
Nach den beiden Morden in Istanbul Anfang Oktober gingen in der Bosporusmetropole und anderen türkischen Städten Tausende Demonstrantinnen und Demonstranten auf die Straßen. Während des Protests in Istanbul ertönten Sprechchöre, die sich gegen Staatschef Erdogan und seine seit 22 Jahren regierende islamisch-konservative Partei AKP richteten: „Erdogan, Mörder! AKP, Mörder!“
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Erdogan kündigt Verschärfung des Strafrechts an – Beobachter skeptisch
Menschenrechtsgruppen werfen der Regierung vor, sie tue nicht genug, um Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu ächten und zu ahnden. 2021 hatte die Türkei auf Betreiben Erdogans die Istanbuler Konvention verlassen, ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen und Bekämpfung häuslicher Gewalt. Die 2011 in Istanbul unterzeichnete und 2014 in Kraft getretene Übereinkunft bestimmt, dass die Gleichstellung der Geschlechter in den Verfassungen und Rechtssystemen festgeschrieben werden muss. Sie verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, gegen physische und sexuelle Gewalt vorzugehen. Erdogan begründete den Austritt damit, Türkei brauche „keine ausländischen Modelle, Übersetzungen oder Kopien, um die Rechte unserer Frauen zu schützen“.
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Nach den Morden von Istanbul kündigte der Staatschef jetzt eine Verschärfung des Strafrechts an. Beobachter bezweifeln aber, ob das allein Wirkung zeigen wird. Denn türkische Gerichte billigen Frauenmördern häufig mildernde Umstände zu, weil sie im Affekt gehandelt hätten oder von den Opfern „provoziert“ worden seien, etwa durch deren freizügige Kleidung.