Berlin/ Istanbul. Wer Kritik am türkischen Staatschef übt, muss mit vielem rechnen – auch mit Gefängnis. Die Geschichte eines 16-jährigen Mädchens.
Istanbul, eine Hauptverkehrsstraße. Ein Konvoi schwarzer Limousinen mit Blaulicht rast heran. Am Straßenrand steht eine 16-jährige Schülerin. Sie fühlt sich offenbar durch den Konvoi gefährdet und ruft etwas. Was, ist nicht genau bekannt. Vielleicht „verdammt“. Was das Mädchen nicht weiß und was ihm nun zum Verhängnis werden könnte: In einer der Limousinen saß Staatschef Recep Tayyip Erdogan.
Der konnte die 16-Jährige zwar nicht hören, aber ein Polizist am Straßenrand war Ohrenzeuge. Dem Mädchen droht jetzt eine mehrjährige Haftstrafe, weil sie den türkischen Präsidenten beleidigt haben soll. In der Türkei ist das kein Einzelfall: In den vergangenen vier Jahren gab es pro Tag durchschnittlich 35 Ermittlungsverfahren wegen „Präsidentenbeleidigung“. Und häufig trifft es Minderjährige. Aber auch ausländische Urlauber müssen mit kritischen Äußerungen vorsichtig sein.
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Wenn es um seine Ehre geht, versteht Erdogan keinen Spaß. In den Jahren 2019 bis 2022 hat die türkische Justiz nach offiziellen Angaben 52.348 Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung des Staatspräsidenten, seiner Regierung oder der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP eingeleitet. Zum Vergleich: Unter den fünf Amtsvorgängern Erdogans im Präsidentenamt seit dem Ende der Militärdiktatur 1983 gab es insgesamt nur 1716 Verfahren in gleicher Sache.
Türkei: Tausende Anklagen jedes Jahr wegen Beleidigung
Das Mädchen aus Istanbul wurde festgenommen und blieb einen Tag im Polizeigewahrsam. Dann wurde die Schülerin auf freien Fuß gesetzt, aber mit der Auflage, sich jede Woche bei der Polizei zu melden. Am 18. August hat die Staatsanwaltschaft Istanbul Anklage wegen Präsidentenbeleidigung erhoben, berichteten türkische Medien. Darauf stehen nach Paragraf 299 des türkischen Strafgesetzbuches bis zu vier Jahre Gefängnis.
In den Vernehmungen vor der Polizei habe sich die 16-Jährige zu rechtfertigen versucht, schreibt die Zeitung „BirGün“: Sie habe nicht gewusst, dass Erdogan in einem der Autos saß. Sechs Monate zuvor sei sie in einen Verkehrsunfall verwickelt gewesen, deshalb habe ihr der heranrasende Konvoi Angst gemacht. Die Staatsanwaltschaft erhob dennoch Anklage. Das Mädchen ist nur eine von vielen Angeklagten. Allein 2023 wurden nach Angaben des Justizministeriums 6879 Personen wegen Präsidentenbeleidigung vor Gericht gestellt, 3584 wurden verurteilt. Es trifft auch Kinder und Jugendliche.
Mitunter nimmt Erdogan die Disziplinierung von Kindern aber auch selbst in die Hand. Ende Juli ging ein Video durch die sozialen Netzwerke. Es zeigt Erdogan mit einem kleinen Jungen bei einer Veranstaltung in der Schwarzmeerstadt Rize. Der Präsident hält dem Kind seinen Handrücken hin. Der Junge soll seine Hand küssen. Doch das Kind weiß offenbar zunächst nicht, was von ihm erwartet wird und blickt fragend zu dem Präsidenten auf. Erdogan versetzt dem Jungen eine Ohrfeige. Daraufhin küsst er die Hand des Präsidenten doch noch – und bekommt zur Belohnung einen Geldschein.
Auswärtiges Amt warnt Festnahmen und Ausreisesperren
Allein 2023 wurden 972 Minderjährige wegen Präsidentenbeleidigung oder Beleidigung der türkischen Nation und der Staatsorgane angeklagt. Im April 2023 erhob die Staatsanwaltschaft Istanbul Anklage gegen ein 13 Jahre altes Kind. Ihm wurde vorgeworfen, in einem Post auf Whatsapp „die Würde und die Ehre des Präsidenten verletzt“ zu haben. Drei Monate später verurteilte das Gericht das Kind zu einem Jahr Haft. Die Strafe wurde dann „wegen des Alters des Angeklagten und guten Benehmens“ auf fünf Monate reduziert und zur Bewährung ausgesetzt.
Systematisch durchsuchen die türkischen Sicherheitsbehörden Tag und Nacht die Einträge in den sozialen Medien nach regierungskritischen Äußerungen. Auch Urlauber sollten deshalb mit Kritik an Erdogan und die Regierung extrem vorsichtig sein. Das Auswärtige Amt warnt in seinen Reise- und Sicherheitshinweisen für die Türkei vor „Festnahmen, Strafverfolgungen oder Ausreisesperren im Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung“.
Niemand scheint mehr vor den Augen und Ohren der Erdogan-Anhänger gefeit. Das erfuhr 2020 auch der Wuppertaler Zahnarzt Kristian B., der am Flughafen von Antalya festgenommen wurde, weil er sich in einem Wortwechsel am Gepäckband beleidigend gegenüber Erdogan geäußert haben soll. Der 63-jährige Arzt verbrachte einem Monat im Polizeiarrest, bevor er ausreisen durfte.