Berlin. Ein Fall am Berliner S-Bahnhof beunruhigt Ermittler. Sie stoßen bei einer Kontrolle auf TATP. Ein Sprengstoff, der bei Terroristen beliebt ist.

In den Dienststellen der Bundespolizei atmen sie auf. Als Beamte am Mittwoch einen Mann am S-Bahnhof Berlin-Neukölln kontrollieren, ahnen sie noch nicht, wie brisant die Situation ist. Die Polizisten haben in dem Moment am Bahnsteig keinen konkreten Verdacht, sie sind hier einfach nur auf Streife. Doch der Mann ergreift plötzlich die Flucht, will wegrennen, kann sich lösen von den Griffen der Polizei, flieht über die Gleise. Was die Beamten nach dem Vorfall in der Hand halten, ist eine Tasche des Täters, darin ein Beutel.

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    Kurz danach ist klar: In dem Beutel ist ein gefährlicher Sprengstoff, gut 500 Gramm. Die Hinweise verdichten sich, dass es sich um hochexplosives Triacetontriperoxid, kurz TATP, handelt. Ein Spezial-Team sprengt den Beutel noch am Abend in einem Park in der Nähe, Feuerwehrleute heben extra dafür Löcher in der Erde aus.

    Es muss schnell gehen, und zugleich müssen selbst Sprengstoff-Fachleute vorsichtig sein. Denn TATP kann schon bei leichten Schlägen detonieren, bei starker Reibung oder bei hohen Temperaturen. Ein Kriminalbeamter beschreibt, dass sogar ein Kristall, der im Deckel des Gefäßes klemmt, eine Explosion hervorrufen kann – allein durch die Wärme, die durch die Reibung beim Drehen des Deckels entsteht. TATP gilt als deutlich sensibler als etwa Nitroglycerin.

    „Das war schon ein gezielt gepacktes Paket“, sagt ein Kriminalbeamter

    Weil die Substanz so explosiv ist, wird sie nicht industriell hergestellt. Die Bundespolizisten am Bahnhof hatten großes Glück, dass die Ladung in der Tasche nicht hochging, sagen Fachleute in den Sicherheitsbehörden.

    Die Strafverfolgungsbehörden haben bisher keine Details zu dem Fall bekannt gegeben, der Täter ist weiterhin flüchtig, zum Motiv der Tat und zu möglichen Anschlagsplänen ist wenig öffentlich bekannt. Von der Staatsanwaltschaft hieß es offiziell am Nachmittag, ein terroristischer Hintergrund sei „unwahrscheinlich“. Eine Einschätzung, die nicht alle teilten. „Das war schon ein gezielt gepacktes Paket, vielleicht sollte es zu jemandem für eine weitere Komponente gebracht werden“, ließ sich ein Ermittler zitieren. Der für politisch motivierte Taten zuständige Staatsschutz vom Landeskriminalamt wurde hinzugezogen.

    Spezialkräfte von Polizei und Feuerwehr sprengen den Beutel am Mittwoch kontrolliert im Park. © Pudwell | Pudwell

    Denn wenn TATP im Spiel ist, werden Ermittler hellhörig. Manche nennen den Sprengstoff die „Mutter des Teufels“. Seit Jahren ist bekannt: Schwere Kriminelle oder Terroristen mischen sich mit Haushaltsmitteln selbst die gefährliche Sprengladung, oft in der eigenen Wohnung. Das Ziel: terroristische Anschläge. Aber auch: Geldautomatensprengungen. Zuletzt fiel TATP bei organisierten Kriminellen Überfällen als Tatwaffe auf.

    Ein Berliner Chemiker erfand Ende des 19. Jahrhunderts den Sprengstoff TATP

    Als bei den Attentaten im November 2015 in Paris 130 Menschen sterben, nutzen die islamistischen Dschihadisten Sturmgewehre – und Sprengwesten mit TATP. Neu war die Tatwaffe damals nicht. Schon 2001 entdeckten Ermittler bei dem Terroristen Richard Reid den Stoff, versteckt in seinem Schuh. TATP fungierte demnach als Zünder für einen weiteren Sprengstoff, verbaut im Schuhfutter. Der Islamist Reid wollte einen Anschlag auf ein Passagierflugzeug verüben. Auch die Anschläge in London 2005 wurden mit großen Mengen des Stoffes begangen. Und 2007 verhafteten deutsche Ermittler die sogenannte „Sauerland-Gruppe“. In ihrer Garage hatten die Islamisten Wasserstoffperoxid gelagert, mutmaßlich zur Herstellung von TATP.

    Warum ist das Mittel, das ein Berliner Chemiker Ende des 19. Jahrhunderts eher zufällig entdeckt hatte, heute so verbreitet unter Terroristen und Kriminellen? Vor allem die hohe Sprengwirkung ist ein Faktor. Schon wenige hundert Gramm können verheerende Folgen haben, wie Sicherheitsleute immer wieder warnen.

    13. November 2015: Bei einem schweren Anschlag durch Islamisten in Paris sterben 130 Menschen. Die Täter nutzten auch den Sprengstoff TATP.
    13. November 2015: Bei einem schweren Anschlag durch Islamisten in Paris sterben 130 Menschen. Die Täter nutzten auch den Sprengstoff TATP. © AFP | DOMINIQUE FAGET

    Und auch die Herstellung im Hobby-Labor gilt als verhältnismäßig einfach. Terrororganisation hatten schon vor vielen Jahren damit begonnen, Anleitungen zum Bau von Bomben ins Internet zu stellen. Wobei es mehrere Fälle gegeben hat, in denen der TATP hochging, als die Täter daran bastelten. Etwa in Dänemark, als ein Terrorist an einer Briefbombe baute.

    TATP ist zudem nicht leicht zu erkennen, es ist farblos, sieht ein wenig aus wie Zucker. Der Stoff zündet per Schlag oder Reibung, das heißt, der Täter benötigt keinen Zünder, der etwa bei Metalldetektoren an Flughäfen Alarm schlägt.

    Für TATP reichen die Zutaten aus Haushaltsmitteln wie Dünger und Lackentferner

    Vor allem ist ein Problem für die Sicherheitsbehörden: Die einzelnen Stoffe sind über den Handel zu kaufen. Und sie kosten nicht viel. Auch das ist ein Faktor gerade für allein agierende Einzeltäter, die keine Organisation im Hintergrund zur Hilfe haben. Um am Ende Sprengstoff zu nutzen, muss ein Täter nicht in die kriminelle Unterwelt abtauchen und sich das Material illegal besorgen. Aus diesem Grund sensibilisieren die Polizeidienststellen Händler und Vertreiber chemischer Haushaltsmittel wie Dünger oder Lackentferner.

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      2021 wurde das Gesetz auf Basis einer EU-Verordnung verschärft. Mit neuen Meldepflichten des Handels und der Hersteller will die Polizei mutmaßlichen Tätern schneller auf die Schliche kommen. Doch sie braucht dafür jemanden, der den ersten Tipp gibt.

      Was die Sprengstoff-Fachleute in den Sicherheitsbehörden nun mit aufwendiger Forensik im Labor untersuchen, ist nicht nur die Zusammensetzung des Sprengstoffs, den die Beamten in dem Beutel am Neuköllner Bahnhof entdeckten. Die Kriminaltechniker schauen sich auch an, wie der Sprengsatz zusammengebaut ist – und ob das etwa auf Anleitungen in dschihadistischen Internetforen schließen lässt.

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