Berlin. Er gilt als einfach zu beschaffen und hochexplosiv. Manche nennen ihn „Mutter des Teufels“. Und doch ist die Produktion hochriskant.

Der Mann wirkt nervös. Auf Fragen der Verkäuferin weicht er aus, will nicht sagen, wo er wohne. Vor allem aber kennt die Verkäuferin die Firma nicht, an der das Material geliefert werden soll, es scheint vielmehr eine Privatadresse zu sein. Die Übergabe der Ware soll auf einem Parkplatz nahe der Autobahn erfolgen. Die Verkäuferin schöpft Verdacht.

Denn die Stoffe sind hochbrisant, die der Mann haben will: Lackentferner auf Aceton-Basis, Abflussreiniger, die Schwefelsäure enthält, dazu Desinfektionsmittel. Für sich genommen alles harmlose Alltagsgegenstände. Aber in bestimmten Mischverhältnissen brandgefährlich, hochexplosiv.

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    Der hier beschriebene Verkauf einiger Stoffe an den Mann ist kein echter Fall, es ist ein Szenario, vor dem die Polizei warnt. Die Sicherheitsbehörden wollen Hinweise an Händler geben, wann sie Alarm schlagen sollen. Wann sie sich Autokennzeichen merken sollen, und das Aussehen des Tatverdächtigen.

    Denn es gibt reale Szenarien, die den Ermittlern große Sorge machen: Schwere Kriminelle oder Terroristen mischen sich mit Haushaltsmitteln selbst eine gefährliche Sprengladung – etwa um Anschläge in Deutschland zu verüben.

    Auch die Attentäter von Paris mit 130 Toten nutzten den Sprengstoff TATP

    Wie real die Gefahr ist, zeigt ein Polizeieinsatz an diesem Mittwoch in Berlin. Am S-Bahnhof Neukölln kontrollieren Bundespolizisten einen Mann. Die Person flieht nach übereinstimmenden Medienberichten und eigenen Recherchen über die Gleise. Die Beamten können nicht folgen. Doch der Tatverdächtige hinterlässt am Bahnhof einen Beutel. Der Inhalt: rund ein halbes Kilo hochexplosiver Sprengstoff.

    Mehrere Medien berichten, es handele sich bei dem Beutelinhalt um Triacetontriperoxid, kurz TATP. Bisher ist das nicht bestätigt. Die Strafverfolgungsbehörden haben keine Details zu dem Fall bekannt gegeben, am Donnerstagnachmittag soll es eine Pressemitteilung geben.

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      Doch die Meldung über den möglichen Sprengstoff TATP schlägt Wellen. Vor allem aus einem Grund: Bei vergangenen Fällen von Terrorismus wurde genau diese peroxidische Substanz von den Tätern genutzt – der schlimmste Anschlag: das Attentat von Paris 2015. Dort starben 130 Menschen, die islamistischen Dschihadisten nutzten Sturmgewehre, und Sprengwesten mit TATP.

      TATP gilt neben anderen Sprengstoffen als hochexplosiv. Fachleute schildern, dass schon eine zu hohe Temperatur oder ein leichter Schlag eine Detonation auslösen können. Ein Kriminalbeamter beschreibt, dass sogar ein Kristall, der im Deckel des Gefäßes klemmt, eine Explosion hervorrufen kann – allein durch die Wärme, die durch die Reibung beim Drehen des Deckels entsteht. TATP gilt als deutlich sensibler als etwa Nitroglycerin.

      In Bayern fielen der Polizei diese Stoffe bei organisierten Geldautomaten-Sprengungen auf

      Sprengstoffexperten warnen, dass eine Herstellung extrem gefährlich ist. Auch deshalb zählen Stoffe wie TATP zu den „Selbstelaboraten“, die nicht massenhaft industriell produziert werden, sondern vor allem von Kriminellen genutzt werden. Nicht nur von Terroristen. In Bayern fielen der Polizei diese Stoffe auch bei organisierten Geldautomaten-Sprengungen auf. Auch aus diesem Grund sind Spekulationen über ein terroristisches Motiv beim Vorfall in Berlin-Neukölln verfrüht. Die Motive des Täters sind nicht bekannt.

      Was die Sprengstoff-Fachleute in den Sicherheitsbehörden nun mit aufwendiger Forensik im Labor untersuchen, ist nicht nur die Zusammensetzung des Spengsstoffs, den die Beamten in dem Beutel am Neuköllner Bahnhof entdeckten. Die Kriminaltechniker schauen sich auch an, wie der Sprengsatz zusammengebaut ist – und ob das etwa auf Anleitungen in dschihadistischen Internetforen schließen lässt.

      Aufgrund der hohen Sprengwirkung ist TATP bei Kriminellen beliebt

      Dass Terroristen TATP nutzen, ist wiederum nicht erst seit 2015 bekannt. Schon 2001 entdeckten Ermittler bei dem Terroristen Richard Reid den Stoff, versteckt in seinem Schuh. TATP fungierte demnach als Zünder für einen weiteren Sprengstoff, verbaut im Schuhfutter. Der Islamist Reid wollte einen Anschlag auf ein Passagierflugzeug verüben. Auch die Anschläge in London 2005 wurden mit großen Mengen des Stoffes begangen. Und 2007 verhafteten deutsche Ermittler die sogenannte „Sauerland-Gruppe“. In ihrer Garage hatten die Islamisten Wasserstoffperoxid gelagert, mutmaßlich zur Herstellung von TATP.

      Diese Gerichtsskizze zeigt den Hauptangeklagten Salah Abdeslam (M.) während des Prozesses um die Pariser Terroranschläge vom November 2015. Die Täter nutzten auch TATP als Tatwaffe.
      Diese Gerichtsskizze zeigt den Hauptangeklagten Salah Abdeslam (M.) während des Prozesses um die Pariser Terroranschläge vom November 2015. Die Täter nutzten auch TATP als Tatwaffe. © Benoit Peyrucq/AFP/dpa | Unbekannt

      Warum ist das Mittel, das ein Berliner Chemiker Ende des 19. Jahrhunderts eher zufällig entdeckt hatte, heute so verbreitet unter Terroristen und Kriminellen? Vor allem die hohe Sprengwirkung ist ein Faktor. Schon wenige hundert Gramm können verheerende Folgen haben, wie Sicherheitsleute immer wieder warnen. Manche nennen es „Mutter des Teufels“.

      Und auch die Herstellung im Hobby-Labor gilt als verhältnismäßig einfach. Terrororganisation hatten schon vor vielen Jahren damit begonnen, Anleitungen zum Bau von Bomben ins Internet zu stellen. Wobei es mehrere Fälle gegeben hat, in denen der TATP hochging, als die Täter daran bastelten. Etwa in Dänemark, als ein Terrorist an einer Briefbombe baute.

      TATP ist zudem nicht leicht zu erkennen, es ist farblos, sieht ein wenig aus wie Zucker. Der Stoff zündet per Schlag oder Reibung, das heißt, der Täter benötigt keinen Zünder, der etwa bei Metalldetektoren an Flughäfen Alarm schlägt.

      Mit Meldepflichten will die Polizei mutmaßlichen Tätern schneller auf die Schliche kommen

      Vor allem ist TATP ein Problem für die Sicherheitsbehörden: Die einzelnen Stoffe sind über den Handel zu kaufen. Und sie kosten nicht viel. Auch das ist ein Faktor gerade für allein agierende Einzeltäter, die keine Organisation im Hintergrund zur Hilfe haben. Um am Ende Sprengstoff zu nutzen, muss ein Täter nicht in die kriminelle Unterwelt abtauchen und sich das Material illegal besorgen. Aus diesem Grund sensibilisieren die Polizeidienststellen Händler und Vertreiber chemischer Haushaltsmittel wie Dünger oder Lackentferner.

      2021 wurde das Gesetz auf Basis einer EU-Verordnung verschärft. Mit neuen Meldepflichten des Handels und der Hersteller will die Polizei mutmaßlichen Tätern schneller auf die Schliche kommen. Doch sie braucht dafür jemanden, der den ersten Tipp gibt.

      Gedenken in der Solinger Innenstadt nach dem Messeranschlag
      Nicht immer nutzen Attentäter Sprengstoff als Tatwaffe. Oftmals kamen zuletzt andere Waffen zum Einsatz, vor allem Messer. Sie sind leicht zu besorgen und haben dennoch oft schlimme Folgen für die Angegriffenen. So war es auch beim Attentat in Solingen. © epd | Guido Schiefer

      Manchmal sind das auch die eigenen – viel häufiger aber die ausländischen Nachrichtendienste. Geheimdienste vor allem in den USA und Großbritannien scannen verdächtige Internetkommunikation. Fällt Auswertern dort auf, dass eine Person auffällige Stoffe im Internet bestellt, geben sie die Hinweise an deutsche Behörden weiter.

      So war es auch 2017 beim jungen Yamen A. in Schwerin, der damals gerade einmal 19 Jahre alt war. Die Ermittler entdeckten in seiner Wohnung, die er sich mit anderen Geflüchteten geteilt hatte, auch einen Messbecher und ein Thermometer. Die Temperatur ist wichtig. Um den hochexplosiven Sprengstoff TATP herzustellen, müssen die Zutaten kühl gemischt werden, am besten mit einer Temperatur unter fünf Grad, heißt es in Foren im Internet. Neben den Laborgeräten hatte der Syrer bei einem Online-Händler Chemikalien bestellt: Schwefelsäure und Wasserstoffperoxid.

      Im Prozess gegen Yamen A. hielt das Gericht fest, der junge islamistisch radikalisierte Mann habe sich bei gleichgesinnten Chatpartnern nach Anleitungen zum Bombenbau erkundigt. Mehrere Male soll A. in seiner Wohnung mit der Herrstellung von TATP experimentiert haben. Sein Ziel laut Gericht: mit einer Autobombe zahlreiche Menschen in Deutschland töten. Er wurde zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt.

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