Berlin. Wenn bei der Wahl am Sonntag die AfD abräumt, wird wieder zu hören sein: Was ist da los in Ostdeutschland? Dabei ist das die falsche Frage.
Seit einer Weile gibt es ein neues Berufsbild in Deutschland, einigermaßen spezialisiert und ziemlich gefragt: Osterklärer, m/w/d, in Vollzeit und Teilzeit möglich. Am Wochenende und in den Tagen danach werden sie wieder im Einsatz sein. Wenn in Brandenburg die AfD möglicherweise zum zweiten Mal stärkste Kraft in einer Landtagswahl wird und über den Ergebnissen wie schon nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen eine Frage schweben wird: Was ist da los in Ostdeutschland?
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Nicht nur vor und an Wahltagen findet das, was in Ostdeutschland passiert, inzwischen im Rest des Landes deutlich mehr Aufmerksamkeit als noch vor einigen Jahren. Es ist gut, dass es diese Aufmerksamkeit für diesen Teil des Landes gibt. Und es ist noch viel besser, dass die meisten, die öffentlich „den Osten“ erklären, inzwischen selbst von dort kommen. Auch wenn es „den Osten“ so pauschal nicht gibt, gibt es trotzdem Geschichte, Erfahrungen und materielle Lebensbedingungen, die die Menschen in Suhl mit denen in Cottbus verbinden, die in Zwickau mit denen in Rostock.
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In wenigen Jahren wird die DDR genauso lange verschwunden sein, wie es sie einmal gegeben hat, und trotzdem prägt sie Deutschland weiterhin – und zwar das gesamte. Auf zahlreichen Landkarten sind ihre Umrisse noch heute deutlich zu erkennen. Wenn grafisch zum Beispiel abgebildet wird, wo die Löhne niedriger sind, wo die Bevölkerung überaltert und weniger wird. Aber auch: wo es mehr Kitaplätze gibt, wo Bauland billiger ist und wo Frauen oft mehr verdienen als Männer.
Internationaler Vergleich: Erfolge rechter Parteien sind Teil eines Trends
Bezeichnend für den Stand der Einheit ist allerdings, dass es ein Westäquivalent zum Ostererklärer auch 35 Jahre nach dem Mauerfall nicht gibt: Westdeutschland muss offenbar niemand erklären. Das steht ganz selbstverständlich für sich. Im Westen die Normalität, im Osten der Sonderfall.
Dabei sind die Linien längst nicht mehr so klar. Nicht nur, weil sich über die ehemalige Grenze längst zahlreiche biografische Zickzacklinien legen. Sondern auch, weil Ostdeutschland politisch gar nicht so besonders aussieht, wenn man den Bezugsrahmen ein bisschen anders auswählt: Im internationalen Vergleich ist der Erfolg einer Partei wie der AfD keine Anomalie, sondern Teil eines Trends, den fast alle unsere Nachbarstaaten erleben oder erlebt haben. Und es ist keineswegs garantiert, dass der Rest Deutschlands dagegen immun ist, auch hier kratzt die AfD in Umfragen an der 20-Prozent-Marke.
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Und auch hier verliert das politische Koordinatensystem der alten Bundesrepublik seine Geltung. Die Bindungen zwischen Milieus und Parteien, die einmal unverbrüchlich schienen, werden längst schwächer, die Zahl der Wählerinnen und Wähler, die sich von Wahl zu Wahl umentscheiden, steigt – und damit auch die Volatilität im System. Vielleicht ist Ostdeutschland, das diese Bindungen so eng nie kannte und deswegen politisch schon immer experimentierfreudiger ist, nicht anders, sondern in erster Linie schneller. Vielleicht ist das Land an dieser Stelle vereinter als gedacht.
Trotz aller regionalen Besonderheiten, die das Wahlergebnis prägen werden, trotz aller bestehenden Unterschiede: Es wäre ein Fehler, nach diesem Sonntag Brandenburg und mit ihm den Rest des Ostens abzuhaken als „irgendwie anders“ und zur Tagesordnung überzugehen. Die Fragen, die die Landtagswahlen in diesem Herbst aufwerfen, müssen gesamtdeutsch beantwortet werden. Es wäre nicht fair, das allein zur Aufgabe der Osterklärer zu machen.
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