Berlin. Nirgendwo zeigen sich die Mechanismen für den Erfolg der AfD so deutlich wie in Sachsen. Eine Spurensuche zwischen Dresden, Leipzig – und Berlin.

Wenn man Tino Chrupalla fragt, was in Deutschland schiefläuft, sprudelt er los. Es ist ein sonniger Tag im August, Chrupalla macht einen Spaziergang durchs Berliner Regierungsviertel und ist kaum zu bremsen. „Die Politik dringt zu sehr ins Private ein“, fängt er an. „Wie die Menschen sich ernähren, wie sie leben, welches Auto sie fahren, mit welcher Heizung sie heizen – jedes Detail soll geregelt werden. Und darauf haben die Bürger – zurecht – keine Lust mehr“, sagt der AfD-Chef und läuft über eine rote Ampel vor dem Reichstagsgebäude.

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Er habe, fährt Chrupalla fort, früher gerne Steuern gezahlt. Damals, als er noch als Malermeister arbeitete. Er habe gewusst, wo das Geld hinging. Aber heute? „Was ist denn in diesem Land in den letzten Jahren noch besser geworden?“, fragt er. Dass der Mindestlohn steigt oder die Energiepreise wieder auf Vorkrisenniveau sind – über all das redet der AfD-Vorsitzende nicht.

Denn Wut ist der beste Treibstoff für den Erfolg seiner Partei, immer noch. Das weiß Chrupalla, der aus Sachsen stammt. Und was aus der Wut erwachsen kann, das zeigt sich im Osten Deutschlands gerade. In Brandenburg, in Thüringen und in Sachsen wird am in wenigen Wochen ein neuer Landtag gewählt. In allen drei Bundesländern ist die AfD so stark wie nie. Bei 30 Prozent liegen die Rechtspopulisten in Sachsen. Und die Mechanismen für ihren Erfolg zeigen sich hier besonders klar. Und die Skandale um den EU-Spitzenkandidaten, der die SS verharmloste, wirken weit weg. Wenn man zuhört, warum Bürger die Partei wählen, wenn man ihre Funktionäre trifft, dann bekommt man eine Vorstellung davon, was die Gründe dafür sind.

AfD, AfD, AFD – überall sind die Plakate

Wer durch Sachsen fährt, sieht blaue Wahlplakate. Überall. Die AfD hängt ihre Parolen teilweise auch einfach so an Zäune und Wände. Doch jetzt, im Landtagswahlkampf, dreht die Partei voll auf. An Ortseingängen, an Ortsausgängen, an Straßenlaternen, sogar an Masten bei der Autobahn: AfD, AfD, AfD. Auf den Plakaten stehen allgemeine Sätze wie: „Steuern und Gebühren senken“ oder „Kita-Beiträge runter“. 

Vor dem Sächsischen Landtag in Dresden ziehen die Straßenbahnen unter grauen Wolken ihre Kreise. Drinnen sitzt Carsten Hütter und ist bester Laune. Es läuft, findet er. Seit 2014 ist Hütter Abgeordneter für die Partei im Landtag und sagt: „Langfristig glaube ich, dass wir in Sachsen die größten Zustimmungswerte holen werden.“ Er trägt eine goldene Halskette und hat die obersten Hemdknöpfe geöffnet. 

AfD-Politiker Carsten Hütter: „Die kennen sich teilweise seit der Kita“
AfD-Politiker Carsten Hütter: „Die kennen sich teilweise seit der Kita“ © picture alliance / dts-Agentur | -

Hütter ist eine Größe in Sachsen und Bundesschatzmeister der Partei. Er malt das Bild eines Landes, in dem sich der Wind dreht. Das liege vor allem an der Sprache, die von den AfD-Politikern benutzt werde. Hütter sagt: „Ich sage es mal zugespitzt: Seitdem die AfD im Bundestag sitzt, gucken Leute Phoenix, die wussten vorher nichtmal, dass es den Sender gibt.“ Manchmal höre er sich alte Reden von Franz-Josef Strauß an, erzählt er. Damit er in Übung bleibt. An Hütters Wand hängen Aufkleber mit Sprüchen wie „Corona. Ist die Politik schlimmer als die Krankheit?“ Und „Keine Heizung ist illegal.“

AfD im Osten: „Die kennen sich teilweise aus der Kita“

Aber der Populismus ist nicht allein der Grund für den Erfolg der Partei. Der Bundesvorsitzende Tino Chrupalla vergleicht die AfD gern mit einem Baum: Die Krone seien die Sitze in den Europaparlamenten und im Bundestag. Doch die Wurzeln dieses Baumes seien die Kommunalparlamente – und diese würden jetzt wachsen. Und wenn man Carsten Hütter zuhört, bekommt man eine Idee davon, was das heißt. Hütter lehnt sich in seinem Stuhl zurück, sagt: „Dort sind Menschen in der Politik, die kennen sich teilweise seit der Kita und sind später eben in unterschiedliche Parteien und Vereine eingetreten. Da geht es dann um den Ausbau von Straßen oder um die Wasserversorgung: Längst sorgen dabei auch AfD-Abgeordnete in manchen Kommunen für die benötigte Mehrheit.“ 

Die AfD stellt mittlerweile Bürgermeister in Sachsen, auf lokaler Ebene gibt es immer wieder Kooperationen mit anderen Parteien. Man kennt sich und man schätzt sich. Im Dresdener Stadtrat stimmten die Christdemokraten mit der AfD für eine Einführung der Bezahlkarte für Migranten. In Limbach-Oberfrohna stimmten CDU und AfD gemeinsam gegen die Verlegung von Stolpersteinen für zwei Holocaust-Opfer, die beide Mitglied der KPD waren. In Bautzen votierte der Landrat für einen Antrag der AfD zur Kürzung der Gelder für Flüchtlinge. Die Dunkelziffer solcher Kooperationen soll hoch sein, schätzen Politikwissenschaftler.

AfD: Eine Mischung aus Verwurzelung vor Ort und Enttäuschung nach der Wende

Hajo Funke gilt als einer der renommiertesten Experten für die AfD, er forscht an der Freien Universität Berlin zu der Partei. Funke erklärt den Erfolg der Parte so: „In Sachsen hat, anders als in Thüringen, fast immer die CDU regiert. Es gab kaum einen Wechsel an der Spitze des Landes. Das verstärkt das Gefühl vieler Menschen, dass sich vermeintlich wenig verändert – und so wächst die Wut.“ Zudem hätten historische Gründe wie negative Erfahrungen mit der Treuhandanstalt und der „Lüge über die vermeintlich blühenden Landschaften“ in Kombination mit den Schwächen der aktuellen Regierung zu dem Erfolg der AfD geführt. 

Es ist diese Mischung aus Enttäuschung nach der Wende, der Verwurzelung in den Kommunen und der von der AfD dauerhaft geschürten Wut, die die Rechtspopulisten auf 30 Prozent hält. Selbst im ICE zwischen Leipzig und Dresden kreisen die Unterhaltungen um die Partei. Es wirkt, als wäre das Thema überall.

Auf einem Marktplatz in Schkeuditz, einem Vorort von Leipzig, steht der AfD-Landtagsabgeordnete Roland Ulbrich. Ein stämmiger Mann, 63 Jahre alt, weiße Haare, fester Blick. Er macht hier Wahlkampf. Ein kleiner Transporter rollt vorbei, daraus brüllt jemand „Scheiß Nazi“. Ulbrich tut so, als hätte er nichts gehört. Vor einigen Monaten argumentierte er mithilfe der Nürnberger Rasse-Gesetze der Nationalsozialisten bei einem parteiinternen Schiedsgericht. Die Gesetze waren eine der juristischen Grundlagen des Holocausts – das war dann sogar der AfD zu viel. Ulbrich musste die Fraktion im Landtag verlassen, der Generalsekretär sagte, er habe „in schwerwiegender Weise“ gegen die Parteigrundsätze verstoßen.

Roland Ulbrich, Landtagsabgeordneter der AfD, sitzt im Plenarsaal des Sächsischen Landtags an seinem Platz.
Roland Ulbrich, Landtagsabgeordneter der AfD, sitzt im Plenarsaal des Sächsischen Landtags an seinem Platz. © DPA Images | Robert Michael

Jetzt steht Ulbrich unter einer großen AfD-Fahne, die Partei hat nicht mit ihm gebrochen. Neben ihm werden Bratwürste und Piroggen verkauft. Zwei Frauen Mitte Fünfzig kommen vom Einkaufen und halten vor ihm an. Was jetzt geschieht, ist ein Beispiel der aktuellen Kommunikation der AfD. Die Frauen beschweren sich, dass Ukrainer in Deutschland so früh in Rente gehen könnten, angeblich ab 58 Jahren. Das stimmt zwar nicht, doch Ulbrich sagt ausweichend: „Dafür ist ja der Bund zuständig, jetzt ist erstmal Landtagswahl.“ Dann schiebt er nach: „Aber wir tun was, wir können.“ Das reicht den beiden Frauen. Sie nicken fröhlich, ihre Stimmen hat Ulbrich wohl sicher.

Und dann erzählt Roland Ulbrich noch, seine Argumentation mit den Gesetzen der Nationalsozialisten spiele im Wahlkampf keine Rolle mehr. Er glaubt, dass er wieder Mitglied der nächsten Landtagsfraktion werden könne. Ulbrich lächelt und sagt: „Dann kann es weitergehen.“ So, als wäre nichts gewesen.