Nir Oz. Neun Monate nach dem Hamas-Überfall auf Israel führen Angehörige durch die Ruinen des 400-Einwohner-Ortes. Ein Besuch des Schreckens.
Diana Zinkler
Soldaten mit Maschinengewehren bewachen die Einfahrt zum Kibbuz Nir Oz – einst ein fruchtbares Paradies in der Negev-Wüste, heute militärisches Sperrgebiet. Eine staubige Straße führt zum Eingang dieses verwaisten Ortes. „Nir Oz“ bedeutet „Neuland der Kraft“. Ein Teil dieser Kraft ist Rita Lifshitz. Die 60-Jährige will nicht aufhören, für den Wiederaufbau ihrer Heimat und die Rückkehr ihres Schwiegervaters, ihrer Freunde und Nachbarn zu kämpfen.
In grauer Jeans und schwarzem T-Shirt mit dem Aufdruck „Bring Them Home – NOW“ wartet Lifshitz auf die Besucher. Sie steht vor dem Speisesaal des Kibbuz, der ersten Station eines grausamen Rundgangs. Unter ihren Turnschuhen knirschen noch die Scherben der Glastür zum Speisesaal. Die Tür ist von Gewehrkugeln durchlöchert worden.
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In Nir Oz lebt heute niemand mehr. Frühere Bewohner des Kibbuz wie Rita Lifshitz führen Politiker, Journalisten und interessierte Gruppen durch ihre Gemeinschaftsräume und Häuser, um auf die Geiseln in Gaza aufmerksam zu machen und Nir Oz wieder aufzubauen. „Das ist unser Lebensziel“, sagt Rita Lifshitz kämpferisch. Ihre Forderungen reiht sie aneinander wie einen Appell, um die Besucher wachzurütteln: „Wir brauchen einen Geiseldeal!“ und „Wir brauchen eure Hilfe!“.
Hamas-Angriff auf Nir Oz: Whatsapp-Nachrichten belegen den Terror
Die Angehörigen kämpfen gegen das Vergessen. Es ist auch ein Kampf gegen die Zeit, denn die Erinnerungen verblassen. Doch an diesem Ort ist der Terror konserviert. Im Flur zum Speisesaal hängen die Postfächer der Bewohner. Ein Name in schwarzer Schrift steht für „gekidnappt“, rote Namen bedeuten „ermordet“, blaue Namen „aus Gaza zurückgebracht“, erklärt Rita Lifshitz.
Vor mehr als neun Monaten, am 7. Oktober 2023, überfielen rund 100 Terroristen der Hamas den Kibbuz im Süden Israels. Nir Oz liegt direkt an der Grenze zum Gazastreifen. Sie durchbrachen den Grenzzaun, der Israel vor Angriffen schützen sollte, um 6.30 Uhr erreichten sie das Kibbuz und begannen sofort, zu schießen. Familien flüchteten in ihre Häuser, versteckten sich, verschanzten sich in den Schutzräumen. Rita Lifshitz war während des Massakers in Tel Aviv: Sie fuhr am Abend des 6. Oktobers in die Stadt, um auf ihre elfjährige Enkelin aufzupassen.
Die 600 Whatsapp-Nachrichten, die am Tag des Überfalls von den Bewohnern verschickt wurden, belegen ihre Not. Vered schrieb um 10.30 Uhr: „Die Terroristen sind hier und es riecht verbrannt“, Itzik schrieb um 10.53 Uhr: „Ich bin verletzt. HILFE“. Andere fragten, wie man einen Schutzbunker schließt. Wieder andere warnten ihre Nachbarn vor den Terroristen, die auf die Flüchtenden schossen, Handgranaten in Schutzbunker warfen, Häuser anzündeten – auch oder gerade dann, wenn noch Menschen drin waren.
Israel: Das Militär erreichte den Kibbuz erst nach acht Stunden
Von 400 Bewohnern in Nir Oz wurden 20 getötet und 80 verschleppt. Von 200 Häusern blieben am Ende des Tages nur vier unversehrt. Erst nach acht Stunden erreichte das israelische Militär den Kibbuz. Da waren die meisten Terroristen schon wieder zurück im Gazastreifen. „Sie haben alles zerstört, was sie zerstören konnten“, sagt Rita Lifshitz. Sie steht inmitten der verbrannten Küche, die an den Speisesaal grenzt. Die Spüle, die Regale, der zerbrochene Tisch, alles ist überzogen mit grauem Ruß, es riecht faulig, verbrannt und stechend süß.
Der angespannte Konflikt zwischen Israel und Gaza war in Nir Oz immer zu spüren. Auch heute hört man immer wieder Explosionen und Schüsse. „Wenn vorher keine Sirene zu hören ist, sind wir das. Kein Grund zur Sorge“, erklärt Rita. Durch den Krieg, der durch den 7. Oktober ausgelöst wurde, sollen nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums (MOH) in Gaza 38.000 Palästinenser durch Angriffe der israelischen Armee getötet worden sein. Laut israelischen Angaben sind bei der Bodenoffensive im Gazastreifen 324 Soldaten und Soldatinnen der IDF getötet sowie 2097 verletzt worden.
Nir Oz wurde 1955 gegründet und gehörte zu der linkssozialistischen Kibbuz-Bewegung Artzi. Auf 20.000 Quadratmetern lebten die 400 Bewohner in einer seltenen Gemeinschaft, der jüngste nicht einmal ein Jahr, der älteste 85 – darunter Holocaust-Überlebende. Gemeinsam betrieben sie eine Fabrik und bewirteten die Felder, verkauften ihre Produkte, waren zuletzt für ihren Spargel bekannt. Viele von ihnen sind Friedensaktivisten und förderten ein friedliches Nebeneinander mit den Palästinensern in Gaza. So wie Oded Lifshitz, Ritas Großvater.
Israel: Den Holocaust-Vergleich hört man häufig
Auf dem Weg zu seinem Haus kommt man am völlig ausgebrannten Supermarkt des Kibbuz vorbei und an dem beschossenen und verwüsteten Kindergarten. Zum Glück waren am 7. Oktober dort keine Kinder. Es war Samstag, und der Kindergarten hatte geschlossen. Trotzdem liegt ein schmutziger Teddy im Flur, ein einzelner blauer Kinderturnschuh vor dem Gebäude. Davor steht eine junge Frau. Sie erzählt, sie sei selbst Jüdin, sei aus Argentinien zu Besuch. Ihr laufen die Tränen übers Gesicht.
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„Ich habe ja erwartet, dass der Anblick von Nir Oz sehr schlimm wird, aber das ist nur mit dem Holocaust zu vergleichen“, sagt sie. Einen Vergleich, den man in Israel häufig hört. Oded Lifshitz war 83 Jahre alt, als er am 7. Oktober zusammen mit seiner Frau Yocheved von Hamas-Terroristen als Geisel genommen wurde. Rita zeigt auf eine ungeöffnete Bierdose, die auf dem Boden vor der Ruine liegt, die einmal das Haus ihrer Schwiegereltern war. Die Terroristen haben es angezündet, nachdem sie ihre Bewohner als Beute mit sich geschleppt hatten.
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„Es ist so ungerecht alles“, sagt Rita. „Denn mein Schwiegervater hat früher regelmäßig kranke Palästinenser in Krankenhäuser nach Jerusalem gebracht. Er war Friedensaktivist und Journalist bei einer linken Zeitung und hat sogar mal ein Interview mit Arafat geführt.“ Rita Lifshitz geht durch das Haus, dort sieht man noch das Gerüst eines Kinderbettes, das einst ihrem Sohn gehört hat. Verkohlte Balken, Metallreste, zerbrochene Bodenfliesen und schmutzige Porzellanscherben sind vom Haus übrig geblieben.
Rita Lifshitz: „Ich bin mir sicher, dass auch Oded noch lebt“
Doch gegenüber blüht fast unversehrt ein Kakteengarten. Es sind die Pflanzen von Oded Lifshitz, diesen Garten hat er vor 60 Jahren zusammen mit seiner Frau Yocheved angelegt. Die 85-Jährige wurde am 23. Oktober zusammen mit der 79-jährigen Nurit Cooper nach Vermittlung durch Katar und Ägypten von der Hamas freigelassen. Ihre Ehemänner befinden sich weiterhin in Geiselhaft in Gaza.
Am 7. Oktober töteten die Hamas-Terroristen nach Angaben der israelischen Regierung 1139 Menschen und nahmen 240 als Geiseln. Inzwischen wurde etwa die Hälfte freigelassen oder für tot erklärt. 120 Menschen, darunter etwa 35 aus Nir Oz, könnten in Gaza noch am Leben sein. Zuletzt gab es vorsichtigen Optimismus, dass Israel und die Hamas ein Abkommen über eine Waffenruhe treffen könnten.
„Ich bin mir sicher, dass auch Oded noch lebt“, hofft Rita Lifshitz. „Ich hoffe, eine palästinensische Familie kümmert sich um meinen Schwiegervater.“ Jeden Freitag kehre sie zu diesem Garten zurück und trinke eine Dose Bier vor dem Haus ihres Schwiegervaters. Die Dose im Sand sei für sie ein Zeichen, dass er noch da ist.
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