Berlin. Die Bundespolitik zieht 1999 mit großen Erwartungen von Bonn in die Hauptstadt. Wurden sie erfüllt? Berlin zeigt seine Kernkompetenz.
Augen irrlichtern durch die puffig-roten Lichtblitze, Bässe schütteln Eingeweide. Was geht hier vor? Warum riecht‘s nach Unlegalisiertem? Und woher kommen die Halbnackten? Die Blicke des Kanzlerkandidaten sind wie Hilfeschreie. Aber die Schranzen wissen auch nicht weiter. Die Klubgänger fragen sich wiederum, warum die Zivilfahnder heute Anzug tragen.
Sommer 2002. Edmund Stoiber ist auf Klubtour, die allerdings nur eine Station hat: das „90 Grad“. Kampf der Kulturen: Der bonngewohnte Bayer gegen die Wurschtigkeit Berlins. Stoiber soll ein Phantom namens „Berliner Szene“ treffen, die an diesem Abend aus Udo Waltz besteht („Aha, der Promifrisör!“) und der Eisschnellläuferin Anni Friesinger, der er kühn erklärt, warum er alsbald womöglich Stammgast werde. Ein Sprudelwasser später ist der Kandidat verschwunden. Vielleicht verlor er an diesem Abend jene 8000 Stimmen, die Kanzler Gerhard Schröder später im Amt hielten.
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Drei Jahre zuvor, im Sommer 1999, vor genau 25 Jahren, schafften 24 Züge 50.000 Kubikmeter Politikmaterial über 650 Kilometer nach Osten. War es der Weg von Bullerbü nach Mordor? Aufbruch vom Duckdichland in die neue globale Verantwortung? Zeit für eine Bilanz: Hat Berlin einen neuen Stil der Politik, ein neuen Typus Volksvertreter hervorgebracht? Verlottert das Land wie seine Hauptstadt? Am Ende ist ein Raumschiff am Rhein gestartet und im Spreebogen gelandet. Kulisse egal. Politik ist sich selbst genug.
Heute heißt der genervte Minister Pistorius und nicht Eichel
„Es wird härter, aber auch spannender“, prognostizierte damals der kluge Soziologe Heinz Bude. Nur: Der Terror von 9/11, Banken-Crash, Fukushima, Ukraine-Krieg oder digitale Hetze hätte es überall gegeben, Reformen bei Rente, Militär und Bildung nirgendwo. Einzig sichtbare Veränderung: Der Umzug verjüngte das Personal, weil viele Ältere auf ihrer Bonner Scholle blieben. Außer Karl Lauterbach, Armin Laschet und Friedrich Merz sind nicht mehr viele Fachkräfte mit Bonn-Hintergrund übrig.
Faszinierend, wie stoisch die bundesrepublikanischen Traditionswellen weiterlaufen. Auf den ewigen Adenauer folgte eine kürzere SPD-Phase mit den Kanzlern Brandt und Schmidt, auf den ewigen Kohl Rotgrün mit Schröder, auf die ewige Merkel Scholzens Ampel. Sozialdemokratisch geführte Regierungen hatten stets nachzuarbeiten, was die Konservativen liegen ließen – ganz gleich, ob in Bonn oder Berlin.
Selbst der Sound ist geblieben. Die „Dilettantentruppe“ mache aus jeder Chance eine Krise und streite erbittert über 30 Milliarden Haushaltslücke, heißt es. Ein Minister fauchte gar: „Wenn das hier so läuft, ist das nicht mehr meine Veranstaltung.“ Was ein nassforscher Jungreporter 1999 noch in Bonn über Rotgrün schrieb, kann man heute nochmal drucken. Nur dass der genervte Minister inzwischen Boris Pistorius heißt und nicht Hans Eichel.
Berlin zeigt seine Kernkompetenz: unberechenbare Scheißegaligkeit
Das Schönste und vielleicht deutscheste am Umzug waren die schäumenden Erwartungen. In Berlin gäbe es „Ideen, Hightech, Tempo wie sonst nur in den USA“ attestierte der Spiegel, die zahllosen Baustellen signalisierten Zukunft, die Jungs aus dem Silicon Valley hielten Berlin für „den hippsten Ort der Welt“.
Ist ja auch immer was los: Promis gucken im „Borchardt“, darstellendes Frühstücken im „Einstein“, wilde Modenschauen in der russischen Botschaft, die schwarze Dienstlimousine, die spät nachts in der Motzstraße im Regenbogenkiez parkt, umringt von peinlich berührten Leibwächtern. Die neue Nähe zum richtigen Leben, zu Kreuzberg und Osteuropa werde die Politik näher zu den Menschen bringen. Was man in seiner Zukunftsbesoffenheit am Vorabend des Jahrtausendwechsels so alles hofft.
Leider Pustekuchen. Stattdessen zeigte die Hauptstadt ihre Kernkompetenz: unberechenbare Scheißegaligkeit. Berlin war nie modern, aber immer absurd. Wird rund ums Kanzleramt was aufgebaut, weiß man nicht, ob gerade Hungerstreik ist oder Marathon, Staatsbesuch, Kunstprojekt oder eine Aktion der Böhmermann-Truppe. An einer Straßenecke ist Ballermann, an der nächsten Scharia, beides auf historisch geladenem Boden. Die Stadt hat zu viele Regierungen erlebt, um sich über Angela Merkel oder Olaf Scholz ernsthaft aufzuregen.
25 Jahre Berlin: „Ein vereinigtes und glückliches deutsches Volk“?
Bonn ist gerade so groß wie einer der zwölf Berliner Bezirke; die Politiker sind nur viele unter vielen, die Staus verursachen und die Mieten treiben. Die Neuen werden sich an Neukölln, die Drogenszene am „Görli“ und das Verwaltungswarten gewöhnen und sich zugleich vom Missverständnis verabschieden, dass Berlin für mehr stünde als Provisorien. Die Begründer des Hinduismus müssen an Berlin gedacht haben, als sie die Lehre vom ewigen Kreislauf des Leidens ersannen.
Immerhin: Party können sie, die Hauptstädter. In Bonn gab es Karneval, in Berlin bis in die 2000er Jahre die Love Parade. 2006 dann das Sommermärchen, was mal wieder als Aufbruch gedeutet wurde, diesmal vom damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan, der „ein vereinigtes und glückliches deutsches Volk“ sehen wollte. Nazis? Annan: „Ich denke, das ist vorbei.“
Und Frank-Walter Steinmeier bewies schon damals gewisse Analyseschwächen, als er einen „wunderbaren Prozess der Selbstverwandlung der Deutschen“ festzustellen meinte. Das Gegenteil trifft zu: Die Nazis sind immer noch da. Alles ist wie immer. Rechte Spinner spielen am Reichstag den Sturm aufs Kapitol nach, Querdenker lamentieren, Trecker brummen. Berlin ist die Leinwand der Republik, worauf sich Wut und Angst und Hoffnung projizieren lassen, wo das Volk wahlweise das Bein heben oder hemmungslos jubeln kann.
In diesem Sommer kann die Erwartungshauptstadt ein neues kleines Kapitel deutscher Geschichte schreiben. Vielleicht vertreibt ein neues Sommermärchen den Pesthauch von Weimar. Das Land braucht dringend Leichtigkeit, Freude und Zusammenhalt. Und wo könnten diese Gefühle besser entstehen als auf der Fanmeile. Und wenn nicht? Egal. Resilienz, Digga. Berlin ist das Trainingslager, um Gelassenheit im Umgang mit dem Durcheinander der Welt einzuüben.
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