Paris. Übernimmt die RN-Chefin die Regierungsmacht, würde sie nicht aus der EU austreten oder den Euro aufgeben. Ihr Kalkül hat sich geändert.

Der „Frexit“, das heißt der Ausstieg Frankreichs aus der EU, ist für Marine Le Pen keine ausdrückliche Option mehr. Auch den Euro hat sie schätzen gelernt. Dahinter steckt mehr Opportunismus als Überzeugung: Die Franzosen sprechen sich heute zu 73 Prozent für das „projet européen“ – für das europäische Projekt – aus. Selbst die Le Pen-Wähler sind mehrheitlich dafür. Sie schimpfen über Brüssel und den Euro, wissen aber insgeheim sehr gut um die Vorteile für ihre Land.

Marine Le Pen hat den „Frexit“ schon vor mehreren Jahren fallenlassen. Sie relativierte, differenzierte – und plädiert stattdessen nun für eine „europäische Allianz freier und souveräner Staaten“. Die 55-jährige Rechtsnationale behauptet, sie liege damit auf einer Linie mit dem französischen Nationalhelden Charles de Gaulle, der nach dem Zweiten Weltkrieg ein „Europa der Vaterländer“ befürwortet habe. Doch es gibt etwas, das sie nicht sagt.

Würde dieses Konzept heute umgesetzt, wäre es kein „Frexit“, sondern das Ende der heutigen EU. Schaut man sich allerdings das Europa-Programm des „Rassemblement National“ (RN) ein wenig genauer an, läuft alles genau darauf hinaus. Konkret hat RN-Listenführer Jordan Bardella im jüngsten Europawahlkampf eine so genannte „Ampel“-Strategie vorgestellt, welche die EU-Zuständigkeit neu regelt und abstuft:

  • Grün sind Bereiche markiert, die das RN weiterhin der EU überlassen würde. Es sind nicht eben viele: Zum Beispiel das europäische Studienprogramm Erasmus, ein europäischer Zivilschutz für Katastrophenfälle sowie einzelne gemeinsame Industrie- oder Forschungskooperationen – darunter für Wasserstoff oder Batterien.
  • Orange sind Themen, die laut Bardella reformiert werden müssen. Die Grenzschutzagentur Frontex soll die Außengrenzen abschotten anstatt Flüchtlinge aufzulesen. Die EU soll laut Bardella dazu dienen, Frankreich mit einer „doppelten Grenze“ – um die EU sowie um das Land – zu schützen. Der Schengenraum soll weiterbestehen, aber nur noch für EU-Bürger.
  • Rot sind die Bereiche, über die Frankreich von der EU die volle Kompetenz zurückgewinnen soll. Dazu gehört das Migrations-Management, die Energie-Politik inklsuive Green Deal und Atomkraft. Bardella zitiert auch die Außenpolitik und die nukleare Abschreckung – die Force de Frappe. Profitieren würde davon vor allem der russische Präsident Wladimir Putin, der seit langem versucht, die EU-Partner zu spalten.
Europawahl 2024: Le Pens rechtsnationale RN feiert in Paris den Wahlsieg
Marine Le Pen und Jordan Bardella haben eine klare Vorstellung davon, welche Kompetenzen das Land aus Brüssel zurückbekommen soll. © action press | Chang Martin/SIPA

Diese „trikolore“ Grün-Orange-Rot-Strategie ähnelt sehr dem Menu à la carte anderer europäischer Nationalisten, die sich an der EU „bedienen“ wollen, wie ihre Gegner kritisieren. Dass Le Pens „Nationen-Allianz“ nicht mehr viel mit der EU zu tun haben würde, zeigt sich erst auf den zweiten Blick. Laut dem RN-Programm sollen die Mitgliedstaaten zusammen einen neuen EU-Vertrag festlegen. Tun sie das nicht, würde Le Pen nach ihrer allfälligen Wahl zur Staatspräsidentin in Frankreich 2027 eine Volksbefragung ansetzen, um die „roten“ Themen in die nationale Kompetenz zu überführen.

Die französische Verfassung würde laut Le Pen auch den Vorrang des nationalen Rechtes vor der europäischen Gerichtsbarkeit festhalten. Bloß: Ein Referendum zu wichtigen Kernkompetenzen der EU in Frankreich würde den politischen Alleingang bedeuten. Dieser „Frexit nach innen“ durch einen EU-Gründerstaat würde die EU notgedrungen sprengen. Frankreich müsste damit gar nicht mehr aus der EU austreten – da letztere so nicht mehr existieren könnte.