Mexiko-Stadt. Claudia Sheinbaum gewinnt die Wahl in Mexiko. Die Physikerin regiert ein 100-Millionen-Land – mit großen Chancen und vielen Problemen.
Letztlich stellte sich bei der Präsidentenwahl am Sonntag in Mexiko nur noch eine Frage: satte Mehrheit oder Erdrutschsieg für Claudia Sheinbaum? Am Ende gewann die Favoritin von der linksnationalistischen Regierungspartei Morena mit noch größerem Vorsprung, als die Umfragen vorhergesagt hatten.
Sie übertraf mit gut 59 Prozent der Stimmen laut Schnellauszählung der Wahlbehörde INE dabei sogar das Ergebnis ihres scheidenden Vorgängers, Andrés Manuel López Obrador, vor sechs Jahren. Die für ein Mitte-rechts-Bündnis angetretene Xóchitl Gálvez erreichte mit knapp 28 Prozent kaum halb so viel Stimmen.
Auf den einzigen Mann und krassen Außenseiter im Rennen, Jorge Álvarez Máynez, entfielen gut neun Prozent. Insgesamt waren knapp 100 Millionen Mexikanerinnen und Mexikaner zur umfassendsten Wahl in der Geschichte des Landes aufgerufen.
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Claudia Sheinbaum (61), Physikerin, Wissenschaftlerin und Umweltexpertin, ist vor allem in Form und Charakter das Gegenteil ihres Mentors López Obrador, der ihr den politischen Aufstieg ermöglicht hat. Inhaltlich und in den Versprechen passte im Wahlkampf allerdings kaum ein Blatt zwischen Sheinbaum und den Staatschef. Aber Analysten gehen davon aus, dass die künftige Präsidentin während ihrer sechsjährigen Amtszeit von Oktober an andere Akzente setzen wird – und auch muss.
Vor allem, um die Baustellen zu beseitigen, die ihr López Obrador auf wirtschaftlichem und politischem Feld hinterlässt. Hier sind in erster Linie das hohe Haushaltsdefizit von sechs Prozent des BIP, der Abbau der demokratischen Strukturen sowie die völlig außer Kontrolle geratene Kriminalität und Macht der Mafias zu nennen. Sieben der zehn gewalttätigsten Städte der Welt liegen in Mexiko.
Der Wahltag, bei dem auch fast 20.000 Posten auf lokaler Ebene, in Bundesstaaten und der Nationalversammlung vergeben wurden, war wie der Wahlkampf von Gewalt überschattet. In einem Ort im Bundesstaat Puebla töteten Unbekannte nach Angaben der Behörden in einem Wahllokal mindestens zwei Menschen.
Inhaltlich ist Mexikos zukünftige Präsidentin eine Blackbox
Die zweitgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas wird also mindestens bis 2030 erstens weiter links regiert und zweitens erstmals von einer Frau. Beides ist derzeit fast ein Alleinstellungsmerkmal in der Region nach dem Rechtsruck der vergangenen Jahre durch testosterongesteuerte Lautsprecher.
Die disziplinierte, eher leise und von calvinistischer Arbeitsethik geprägt wirkende Sheinbaum, die ihre Mitarbeiter respektvoll „La Doctora“ nennen, ist ein Gegenprogramm zu rechtspopulistischen Machos wie Argentiniens Javier Milei und El Salvadors Nayib Bukele oder zuvor Brasiliens mittlerweile Jair Bolsonaro.
Und sie ist – und das ist in diesen Zeiten opportun zu erwähnen – eine Präsidentin jüdischer Abstimmung, auch wenn sie sich nicht als Teil der jüdischen Gemeinde Mexikos versteht. Ihre Großeltern wanderten aus politischen und wirtschaftlichen Gründen aus Litauen und Bulgarien nach Mexiko aus. Ihre Eltern waren beide Naturwissenschaftler und Aktivisten der 68er-Bewegung.
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Sheinbaum ist schwer zu fassen
Sheinbaum, die zuvor Umweltministerin und dann Regierungschefin von Mexiko-Stadt war, liegt die Kärrnerarbeit mehr als die großen populistischen Würfe von López Obrador. „Ich bin jemand, der Entscheidungen auf der Grundlage von Daten und unverrückbaren Fakten trifft“, sagte sie einmal in einem Interview. Inhaltlich ist die neue Präsidentin ein Stück weit eine Blackbox.
Wird sie ähnlich populistisch, autoritär und in Grundzügen anti-demokratisch regieren wie ihr Vorgänger? Oder wird sie eigene, moderne und vielleicht auch feministische Akzente setzen? In den wenigen Interviews vor der Wahl, die sie gegeben hat, äußerte sie sich maximal schwammig. Der spanischen Tageszeitung „El País“ sagte sie: „Meine Führung des Landes wird so sein wie die als Regierungschefin von Mexiko-Stadt. Basierend auf Ergebnissen, Engagement und Ehrlichkeit.“
Im Wahlkampf deutete sie aber an, dass erneuerbare Energien und eine dezidiert feministische Politik neue Schwerpunkte sein könnten. Beide Themen waren López Obrador ein Graus, zum einen, weil er den hoch verschuldeten staatlichen Ölkonzern PEMEX stärken wollte. Zum anderen hält er Feministinnen pauschal für Teil der „konservativen Elite“.
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Sheinbaum kommt in einer schwierigen Zeit an die Macht, in der es Mexiko zwar dank einer starken Wirtschaft, einer harten Währung und vielen Auslandsinvestitionen gut geht, aber sich das politische und damit auch das ökonomische Umfeld zunehmend eintrüben.
Baustellen im In- und Ausland
In den USA, dem Haupthandelspartner, könnte ihr Gegenüber zukünftig Donald Trump sein, der in der komplizierten Frage der chinesischen Investitionen in Mexiko noch mehr Druck ausüben könnte. Denn China versucht, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen USMCA zu nutzen und mit verstärktem Engagement in Mexiko die US-Strafzölle auf Industriegüter und Autos zu umgehen.
Zudem verschärft sich das Problem der Migration, weil jedes Jahr mehr als zwei Millionen Menschen aus mehrheitlich Zentral- und Südamerika Mexiko als Transitland auf dem Weg in die Vereinigten Staaten durchqueren. Auch da droht schon vor der Präsidentenwahl im November Stress mit dem nördlichen Nachbarn. Zudem sind der Drogenschmuggel und hier besonders der Fentanylhandel potenzielle Konfliktthemen.
Beim Thema, das die meisten ihrer Landsleute besorgt, muss sie einen völlig neuen Ansatz entwickeln: die Gewaltkriminalität und das Organisierte Verbrechen. Hier hat López Obrador auf ganzer Linie versagt. Anders als versprochen sind unter seiner Ägide die Kartelle mächtiger geworden, und die Zahl der Morde und Verschwundenen stieg auf historische Höhen an.
Sheinbaum will dem Problem mit einem neuen Geheimdienst und Ermittlungsbehörden zur Entlastung der überforderten Staatsanwaltschaften begegnen. Unwahrscheinlich, dass das ausreicht.