Berlin. Europaausschuss-Vorsitzender Anton Hofreiter fordert 500 Milliarden für die Verteidigung – der Ukraine will er einen Freibrief geben.
Kann sich Europa gegen Russland verteidigen? Der Europapolitiker der Grünen, Anton Hofreiter, nimmt Kanzler Olaf Scholz und den französischen Präsidenten Emmanuel Macron in die Verantwortung.
Herr Hofreiter, was versprechen Sie sich vom Staatsbesuch des französischen Präsidenten?
Anton Hofreiter: Ich erwarte, dass Scholz und Macron konkrete Schritte formulieren, wie eine gemeinsame europäische Verteidigung erreicht wird. Wenn Paris und Berlin vorangehen, werden andere Mitgliedstaaten folgen.
Welche konkreten Schritte fordern Sie?
In Zeiten, in denen die europäische Sicherheit ernsthaft bedroht ist, braucht es gemeinsame europäische Lösungen. Mein Vorschlag wäre ein europäischer Verteidigungsfonds, der um die 500 Milliarden Euro bereitstellt. Damit sollten Rüstungsprojekte, an denen mindestens drei Mitgliedsstaaten beteiligt sind, bis zu 30 Prozent finanziert werden - vorausgesetzt, das investierte Geld geht zu 80 Prozent an europäische Unternehmen.
Woher kommt das Geld?
Der Verteidigungsfonds könnte ähnlich wie Corona-Wiederaufbaufonds aufgelegt werden. Dafür würde die EU-Kommission an den Kapitalmärkten Kredite aufnehmen. Die Mittel sollten auch dazu genutzt werden, die europäische Infrastruktur zu härten. Funktionierende Straßen, Brücken und Schienenwege sind nicht nur wichtig fürs Pendeln, Reisen und die Wirtschaft. Sie sind eine Grundlage unserer Verteidigungsfähigkeit.
Welche Rolle spielen dabei die französischen Atomwaffen? Können sie ganz Europa schützen?
In dieser Frage ist es wichtig, mit Frankreich in einen Dialog zu treten. Macron hat das bereits mehrfach angeboten. Bisher wurden seine Vorstöße leider nicht angenommen. Das ständige Schielen Deutschlands auf die USA – insbesondere in Bezug auf atomare Abschreckung – schwächt die atomare Macht Frankreichs und damit die gesamte europäische Sicherheit.
Liegt es eher an Scholz als an Macron, dass der deutsch-französische Motor stottert?
Macron hat immer wieder Angebote an Deutschland gemacht, die bereits unter der letzten Bundesregierung gar nicht oder viel zu zögerlich beantwortet wurden. Gleichzeitig kündigt Macron immer wieder große Strategien an, auf die dann kaum Konkretes folgt. Hier braucht es von beiden Seiten mehr Verbindlichkeit.
Verbindlichkeit – was bedeutet das für die Unterstützung der Ukraine?
Deutschland und Frankreich gehören beide zu den größten Unterstützern der Ukraine – auf unterschiedliche Weise. Leider ist das aber immer noch nicht genug. Solange sich Paris und Berlin auch nicht auf eine echte abgestimmte europäische Verteidigung einlassen und damit Schwäche signalisieren, wird sich Putin in seinem Vorgehen ermutigt fühlen und im schlimmsten Fall weitere Staaten überfallen.
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Was sollte Deutschland jetzt tun, um die russische Offensive abzuwehren - und was Frankreich?
Deutschland hat das Geld und die Ressourcen, die Ukraine noch besser mit Waffen und Munition auszustatten. In der ernsten Lage, in der die Ukraine steckt, dürfen einzelne Waffensysteme nicht pauschal ausgeschlossen werden. Frankreich hingegen verfügt über mehr Erfahrung und die entsprechenden Ressourcen für eine – auch atomare – Abschreckung.
Ist es richtig, Waffen nur unter der Bedingung zu liefern, dass die ukrainische Armee damit nicht russisches Territorium angreift?
Die Ukraine hat sich bislang an alle Vereinbarungen gehalten, welche Ziele sie mit aus dem Westen gelieferten Waffen angreift. Wir sehen aber, dass Russland die eigene Kriegsführung ständig anpasst und ukrainische Schwächen konsequent ausnutzt. Die russische Armee beschießt Tag und Nacht vom eigenen Staatsgebiet aus die ukrainische Millionenstadt Charkiw. Seit kurzem nutzen die russischen Streitkräfte dafür vor allem Gleitbomben, mit denen gezielt Wohngebäude angegriffen werden. Gleitbomben werden von Kampfjets über russischem Territorium abgeschossen und brauchen nur 40 Sekunden, bis sie einschlagen. Kein Flugabwehrsystem kann sie verteidigen. Der Luftalarm ertönt erst nach dem Einschlag. Wir brauchen daher eine ernsthafte Debatte darüber, wie die Ukraine ihre Bevölkerung an der Grenze zu Russland besser schützen kann.
Gehört dazu, mit westlichen Waffen russisches Staatsgebiet anzugreifen?
Das Völkerrecht erlaubt es einem angegriffenen Staat militärische Ziele im Land des Aggressors zu attackieren. Das ist Teil der Selbstverteidigung. Es geht hier um den Schutz der ukrainischen Bevölkerung. Daher sollten wir die Ukraine nicht daran hindern, mit den gelieferten Waffen russische Kampfjets auch im russischen Luftraum abzuwehren.
Bleibt die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine ausgeschlossen?
Die Ukraine braucht schnell mehr Munition, Waffen und Flugabwehr – keine ausländischen Bodentruppen. Wir sollten keine Phantomdebatten führen, sondern uns auf das fokussieren, was der Ukraine jetzt wirklich hilft. So sieht es meines Wissens auch Präsident Selenskyj.
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