Berlin. Schweden fürchtet einen russischen Einmarsch auf Gotland, Finnland und Litauen sind über Grenzpläne alarmiert. Doch Putin plant anders.
In Schweden, Finnland, Litauen und Estland schrillen die Alarmglocken. Die vier Nato-Staaten befürchten, dass der russische Präsident Wladimir Putin nun auch in der Ostsee Expansionspläne hat. „Ich bin sicher, dass Putin sogar beide Augen auf Gotland geworfen hat“, sagte der Oberbefehlshaber der schwedischen Streitkräfte, Micael Bydén, vor wenigen Tagen. Die schwedische Insel liegt mitten in der Ostsee. Von hier aus kann man die Ein- und Ausfahrt des Meeres kontrollieren.
„Wenn Putin aber in Gotland einmarschiert, kann er die Nato-Länder vom Meer aus bedrohen“, warnte Armeechef Bydén laut RND. „Das wäre das Ende von Frieden und Stabilität in den nordischen und baltischen Regionen.“ Die strategische Lage in der Ostsee hat sich seit dem Ukraine-Krieg zum Nachteil Russlands entwickelt. Nach dem Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands gehört die gesamte Meeresküste zum Bündnisgebiet – mit Ausnahme des Terrains bei St. Petersburg und der russischen Exklave Kaliningrad.
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Eine russische Invasion auf Gotland ist dennoch unwahrscheinlich. Putin sieht den Westen zwar als Erzfeind an, aber an einer militärischen Konfrontation mit der Nato parallel zum Ukraine-Krieg hat der kühl kalkulierende Machtpolitiker kein Interesse. Zumindest aktuell nicht.
Experte: „Einen Nato-Bündnisfall wird Putin kaum riskieren“
„Russland hat viele Truppen von der Grenze zu Finnland und den baltischen Staaten in die Ukraine abgezogen. Ich kann nicht erkennen, warum sich Putin in ein neues Abenteuer stürzen sollte“, sagte Wolfgang Richter, Militärexperte am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik und ehemaliger Bundeswehr-Oberst, unserer Redaktion. „Ein Einmarsch in Gotland würde den Nato-Bündnisfall auslösen. Dieses Risiko wird er kaum eingehen.“
Doch nicht nur das Gotland-Szenario, auch russische Pläne für die Küstenlinie bei Kaliningrad und St. Petersburg sorgen für Aufregung. Am Dienstagabend wurde in der Gesetzesdatenbank der russischen Regierung eine Initiative des Verteidigungsministeriums veröffentlicht, wonach die nationalen Hoheitsgewässer erweitert werden sollen. Dadurch würden litauische und finnische Gebiete in der Ostsee Russland zugeschlagen.
Entsprechend scharf waren die Reaktionen in der Nachbarschaft. „Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass Russlands aggressive und revisionistische Politik eine Bedrohung für die Sicherheit der Nachbarländer und ganz Europas darstellt“, hieß es aus dem litauischen Außenministerium.
Desinformations-Operation, um von der Ukraine abzulenken?
Die Pläne sind zum einen ein Reflex der alten russischen Angst, von Feinden eingekreist zu sein. „Russland will vermeiden, dass die Nato Aufklärungsflüge nahe dem eigenen Territorium durchführt“, erläutert Militärexperte Richter. Zum anderen steckt dahinter ein großes Verwirrspiel. „Das ist blanke Provokation. Meiner Einschätzung nach ist das eine russische Desinformations-Operation, um den Westen vom zentralen Thema, dem Ukraine-Krieg, abzulenken“, sagte der Sicherheitsexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) unserer Redaktion.
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Dazu passt, dass sich der Vorstoß zu den Hoheitsgewässern plötzlich in Luft auflöste. Am Mittwoch meldeten mehrere russische Agenturen unter Berufung auf militärisch-diplomatische Kreise, dass es bei dem Gesetzesprojekt doch nicht um eine Ausweitung russischen Gebietes gehe. Ob es dabei bleibt, ist dennoch unklar.
Hybrider Krieg: Fake News, Cyber-Attacken und Militäreinsätze
In der Nacht zum Donnerstag gab es einen weiteren Zwischenfall. Russland entfernte mehrere Bojen zur Markierung von Schifffahrtsrouten in der Narva. Der Fluss markiert nicht nur die Grenze zwischen der ehemaligen Sowjetrepublik Estland und Russland, er ist auch die östliche Außengrenze von EU und Nato. „Wir sehen ein breiteres Muster, bei dem Russland versucht, mit seinem Vorgehen Angst zu säen“, kritisierte Estlands Regierungschefin Kaja Kallas.
Provozieren, zündeln, einschüchtern: ein typisch Putinscher Dreiklang. Er ist Teil der hybriden Kriegsführung. Diese umfasst die gesamte Palette aus Fake News, Cyber-Attacken, Propaganda-Kampagnen bis hin zu Militäreinsätzen. Der russische Generalstabschef Waleri Gerassimow definierte 2013 – ein Jahr vor der Krim-Annexion – erstmals, was sein Land unter „nicht-linearer Kriegsführung“ versteht.
Domino-Effekt der Disruptionen – Putin plant langfristig
Im 21. Jahrhundert lösten sich die Grenzen zwischen Krieg und Frieden auf, so Gerassimow. Politische Ziele seien nicht mehr allein mit konventioneller Feuerkraft zu erreichen, sondern durch den „breit gestreuten Einsatz von Desinformationen, von politischen, ökonomischen, humanitären und anderen nichtmilitärischen Maßnahmen, die in Verbindung mit dem Protestpotential der Bevölkerung zum Einsatz kommen“.
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Gut möglich, dass Putin mit taktischen Manövern rund um Grenzverschiebungen und angeblichen Invasionsdrohungen die Reaktionen des Westens testen will. Kommt er mit kleineren Verstößen durch, denkt er sich im nächsten Schritt größere aus. Es ist ein Domino-Effekt der Disruptionen. Passivität und Schwäche würde er als Ermutigung begreifen. Dabei plant der Kremlchef langfristig.
Das Trauma des Zusammenbruchs der Sowjetunion sitzt so tief, dass für ihn eine Revanche gegen den Westen unausweichlich ist. Putin hat die russische Wirtschaft auf Kriegsproduktion umgestellt – rund neun Prozent des Staatshaushalts fließen in die nationale Sicherheit. „Wir sind ja gerade in einem Wettlauf rund um die Frage: Wer ist in ein paar Jahren besser aufgestellt – die Russen oder die Nato? Derzeit ist das noch die Nato“, bilanziert Mölling.
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