Berlin. Ostap Hanuliak floh vor dem Ukraine-Krieg nach Berlin. Für sein Heimatland an der Front kämpfen will er nicht. Was sind seine Gründe?
Die ukrainische Flagge ist in Ostap Hanuliaks Wohnung allgegenwärtig. Auf Buchcovern oder Gruppenfotos, sogar auf dem Briefkasten deutet die blau-gelbe Farbkombination auf die Herkunft des 19-Jährigen hin. Sie zeigt die Verbundenheit, die Hanuliak noch zu seinem Heimatland fühlt. Man merkt es auch in seiner Sprache, er sagt „wir“, wenn er die Ukraine meint und die Soldaten, die das Land gegen Putins Truppen verteidigen. Doch er ist keiner dieser Soldaten. Und wenn es nach ihm geht, wird er auch nie einer sein.
Als Hanuliak im Frühjahr 2022 in Berlin ankommt, geht er davon aus, dass er bald wieder in die Ukraine zurückkehren kann. „Ungefähr sechs Monate“, denkt er, danach wäre der Krieg vorbei. Fast zwei Jahre später fallen noch immer regelmäßig russische Bomben in seiner Heimatstadt Lwiw. Rund 800 Kilometer Luftlinie entfernt lebt Hanuliak in seiner spärlich eingerichteten Einzimmerwohnung und verfolgt die Geschehnisse in Lwiw per App.
Ukrainisches Kriegsrecht: Männer zwischen 18 und 60 dürfen nicht ausreisen
Hätte er wenige Wochen länger gewartet, bis zu seinem 18. Geburtstag, bräuchte er wohl keine App. Er würde die Einschläge mit eigenen Ohren hören und die Zerstörung mit eigenen Augen sehen. Denn: Seit der russischen Invasion gilt in der Ukraine das Kriegsrecht und damit eine Generalmobilmachung.
Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nur in absoluten Ausnahmefällen verlassen. Eine Wehrpflicht gilt für Männer ab 20, üblicherweise dauert der Dienst an der Waffe 18 Monate. Verweigern können sich dem Kriegsdienst nur Angehörige einiger weniger Glaubensgemeinschaften, etwa der Zeugen Jehovas.
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Ukraine-Krieg: Familie und Freunde haben Verständnis für die Flucht
Eine Entsendung in Kriegseinsätze droht zwar erst ab dem 27. Lebensjahr, dennoch ist Hanuliak die Gefahr zu groß. Er macht sich mit 17 Jahren alleine in Richtung Berlin auf, über Details seiner Reise will er nicht sprechen. Inzwischen sind auch seine Mutter und seine drei jüngeren Geschwister in Deutschland. Seine Freunde und ein Großteil seiner Familie leben allerdings weiterhin in der Ukraine. Ob sie ihm seine Flucht vor einem möglichen Kriegsdienst übel genommen haben? „Sie haben das einfach akzeptiert“, antwortet Hanuliak. Sie würden sich freuen, dass er in Sicherheit sei.
Und das, obwohl sie teilweise selbst ihr Leben für die Freiheit der Ukraine riskieren. Hanuliak erzählt von einem Onkel, der zu Kriegsbeginn aus Ungarn zurück in die Ukraine ging und bis heute an der Front kämpft. Der habe in „sehr heißen Gebieten“ gekämpft, etwa in Bachmut. Um die Stadt im Osten der Ukraine hatte es monatelange Schlachten gegeben, Zeugen berichteten von weltkriegsähnlichen Zuständen. In Anlehnung an die historischen Geschehnisse in Verdun war von der „Hölle von Bachmut“ die Rede. Auch der Onkel sei froh, dass sein Neffe in Sicherheit ist.
Flucht aus der Ukraine: In Deutschland muss er nicht kämpfen
„In meinem Alter wäre es sinnlos zu kämpfen“, sagt Hanuliak. Und er meint damit, dass ihm Erfahrungen und eine militärische Ausbildung fehlen würden. Der etwa doppelt so alte Onkel sei körperlich stärker und verfüge über Kenntnisse, die ihm an der Front nützten, erklärt der 19-Jährige, der auch äußerlich mehr wie ein Denker als ein Kämpfer wirkt.
In Deutschland muss Hanuliak nicht kämpfen: Als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling hat er nach seiner Ankunft in Berlin Anspruch auf Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, die er auch heute noch bezieht. Das umfasst nicht nur finanzielle Unterstützung, ihm wird auch eine Betreuerin an der Seite gestellt, mit der er sich wöchentlich trifft und die ihm in bürokratischen Fragen weiterhilft. Als er ankommt, spricht er nur Ukrainisch und etwas Englisch. Bereits nach einem Monat darf er einen Sprachkurs besuchen, inzwischen spricht er Deutsch auf C1-Niveau, verfügt also über „fachkundige Sprachkenntnisse“.
Junger Ukraine-Flüchtling: „In Deutschland kann ich hilfreicher sein“
Und auch wenn Hanuliak sein Land nicht im Schützengraben verteidigen will, setzt er sich dennoch ein. „In Deutschland kann ich hilfreicher sein“, ist er überzeugt. Er hat eine Organisation gegründet, die ukrainische Kulturveranstaltungen durchführt und dort Spenden sammelt. 6000 Euro seien schon zusammengekommen, erzählt er, mit dem Geld würde auch Ausrüstung für die Soldaten an der Front finanziert. Ein weiterer Verein, der den kulturellen Austausch zwischen deutschen und ukrainischen Jugendlichen stärken soll, befinde sich in der Gründung.
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„Die Menschen vergessen, wer der Aggressor ist und wer sich verteidigt“, entgegnet er denen, die der Ukraine Zugeständnisse abverlangen wollen und für Verhandlungen plädieren. „Ich bin der Meinung, dass westliche Länder mit Waffen unterstützen müssen, weil es nicht nur um die Interessen der Ukraine geht, sondern auch um die Sicherheit westlicher Länder und der EU“, sagt er. Würde die Ukraine verlieren, könnte Russland sich innerhalb weniger Jahre dem nächsten Ziel zuwenden, glaubt Hanuliak.
Gefahr durch Russland: Deutschland muss sich vorbereiten
Vor diesem Hintergrund ist auch in Deutschland eine Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht entbrannt. Generalinspekteur Breuer sagte im Interview mit unserer Redaktion, Russland sei innerhalb der nächsten fünf bis acht Jahre in der Lage, einen Krieg gegen Nato-Staaten zu führen. Hanuliak hält eine deutsche Wehrpflicht für sinnvoll, als Mittel der Abschreckung. Deutschland müsse sich vorbereiten, um sicherer zu sein.
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Einen Einsatz von Soldaten aus Deutschland oder anderen westlichen Ländern in der Ukraine hält er allerdings für keine gute Idee. Russland könnte dies als Provokation sehen und die Lage weiter eskalieren. Doch die Ukraine gerät im Kampf gegen den russischen Aggressor immer mehr ins Hintertreffen, es fehlen auch Soldaten. Darum wurden die Rekrutierungsbemühungen intensiviert. Wer noch im Land ist und nicht kämpfen will, muss sich verstecken.
Hanuliak muss sich nicht verstecken. Er kann sein Leben in Deutschland leben, es gibt keine Pläne, Ukrainer, die sich in Deutschland aufhalten, zurück in ihr Heimatland zu schicken. Auf die Forderung des ukrainischen Präsidentenberaters, EU-Länder sollten die Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge einstellen, damit diese zurückkehren, ging die Bundesregierung nicht ein. Hanuliak weiß um das Problem der fehlenden Soldaten, die Entsendung junger, unerfahrener Männer in den Kampf lehnt er dennoch ab.
Geflüchteter Ukrainer träumt von der Ukraine als Teil der Europäischen Union
Fragt man ihn nach seinen Wünschen und Träumen, erzählt er zunächst von seinen Sorgen über die aktuellen Geschehnisse an der Front. Denn auch er, der nicht kämpfen will, wünscht sich einen Sieg und eine Rückeroberung der besetzten Gebiete. Zudem träumt er von einem Beitritt seines Heimatlandes in die Europäische Union, dafür hat er sich schon in der Ukraine engagiert.
Gleichzeitig arbeitet Hanuliak aber auch an seiner eigenen Zukunft. Nur mit seinem ukrainischen Schulabschluss darf er in Deutschland nicht studieren, deswegen nimmt er an einem einjährigen Studienkolleg teil. Sein Ziel ist es, Politikwissenschaften zu studieren. Nach dem Bachelor will er sehen, wie er zum Wiederaufbau der Ukraine beitragen kann.